Natürlich wird man versuchen, uns zu sagen: Wartet, alles zu seiner Zeit. Wir werden antworten: Nein. Wir haben zu lange warten müssen. Was sollen wir jetzt noch abwarten? Und: Warum überhaupt warten?
Es gibt Homosexualität. Es gibt den arabischen Homosexuellen. Er steckt gerade mitten in der arabischen Revolution. Er nimmt an ihr teil. Ihm ist bewusst, dass dieser Augenblick auch ihm gehört. Deshalb spricht er. Deshalb weint er.
Ich spreche. Ich weine.
Und ich erinnere mich. Al-Jahiz. Abou Nouass. Omar Khayyam. Jallal Dine Rûmi. Und bei so vielen anderen großen arabischen Schriftstellern und Dichtern war die Homosexualität treibend in ihrem Denken, in ihrer Art, die Welt zu befragen, ihre Religion, Gott. Ihre Bücher, die vor mehreren Jahrhunderten entstanden, gibt es noch heute. Sie werden sogar als Meisterwerke der arabischen Sprache betrachtet. Aber es sind Meisterwerke, die man ihres tiefen Sinnes beraubt hat, ihrer Unerbittlichkeit, ihrer subversiven Fragestellungen.
Eine arabische und homosexuelle Individualität hat es immer gegeben. Es ist Zeit, dies einzugestehen. Es ist Zeit, dieses versteckte „Ich“ nach außen treten zu lassen. Damit es endlich und wirklich Freiheit erlebt. Eine Freiheit, die andere akzeptiert. Alle anderen. Freiheit der Religion. Des Denkens. Die Freiheit, sich selbst zu gehören. Dagegen zu sein.
Wer bin ich? Wer sind wir?
Und damit der Kampf zu diesen konkreten Ergebnissen führt, zu Änderungen der Gesetze und der Mentalität, müssen sich arabischsprachige Schriftsteller und Intellektuelle (die in den letzten Jahrzehnten durch bedrückendes Schweigen glänzten) engagieren. Ihren Egozentrismus verlassen. Sprechen. Schreiben. Dieser tiefen Sehnsucht der Araber Ausdruck verleihen. Der Sehnsucht zu sterben und wiedergeboren zu werden. Sie müssen sich opfern. Die eigene Rolle in der Welt neu definieren. Und sich selbst überwinden. Von dem einen Ich in ein anderes Ich gelangen.
Individualität ist nicht gleich Individualismus. Das Schlüsselwort dieser Revolution ist ganz offensichtlich Engagement. Ein ernsthaftes Engagement. Das für manche über das Schreiben geht, über das Begleiten der anderen. Über den inneren Wunsch, sich ernsthaft um den anderen kümmern.
Die arabische Welt durchlebt derzeit eine existenzielle, entscheidende Phase. Wir dürfen nicht mehr warten, bis man uns ein Zeichen gibt, um zu existieren. Um unsere Fiktionen ausbrechen zu lassen, um unsere inneren Grenzen zum Einsturz zu bringen.
Natürlich ist die politische Wirklichkeit sehr komplex, deren Zwänge sind vielfältig. Die Avatare der arabischen Diktatoren und ihrer Systeme sind noch an Ort und Stelle, sie sitzen in den Verwaltungen und in den erschrockenen Herzen. Natürlich sind die Familien, unsere Familien, noch weit davon entfernt, diese junge, frische und mutige Revolte wirklich zu begreifen. Das ist nicht schlimm. Wir haben genug Zugeständnisse gemacht. Und wir haben oft genug weggesehen.
Heute schauen wir in uns hinein.
Ich sehe in mich hinein. Sehe meine Vergangenheit. Sehe meine Geschichte. Meine Herkunft. Mein Herz. Mein Geschlecht. Wer bin ich? Wer sind wir? Und wie sind wir dahin gelangt, wo wir jetzt sind?
Sehr oft schießen mir Tränen in die Augen, seit der junge Tunesier Mohammed Bouazizi sich selbst verbrannt hat. Er war 26 Jahre alt, ein arbeitsloser Gemüsehändler. Sein Schicksal gab den Startschuss für den Aufstand. Sein Tod ist nicht der Tod, kann nicht den Tod bedeuten. Es ist eher anders herum: Durch ihn leben wir heute auf. Wir sehen die Gefahr: Aber wir flüchten nicht vor ihr, wir schreiten weiter voran.
Ich bin in ihn verliebt. Und auch in diese jungen Araber, die, angetrieben vom echten Odem des Lebens und der Geschichte, alles neu definieren, darunter auch unsere arabische Sprache, die schon so lange erstarrt war. Und die unsere vertrockneten Seelen zum Leben erwecken. Unsere in der Wüste verlorenen Gedichte.
Ich habe bereits den Beweis dafür, dass diese jungen Leute der Wahrheit, die uns im Moment trägt, nicht den Rücken zukehren werden. Ich träume davon und bin mir in meiner luziden Naivität dessen schon jetzt sicher.
Revolution ist möglich
In Marokko haben die Homosexuellen in den vergangenen zehn Jahren den Kampf für die individuellen Rechte ausgetragen. Sie haben ohne Unterlass die marokkanische Gesellschaft durcheinandergewirbelt, und trotz vieler Angriffe haben sie nicht aufgegeben. Sondern standgehalten. Man kann Homosexueller und Araber und Moslem sein. Oder kein Moslem. Ja und abermals ja.
Und schließlich entstand im Kielwasser der arabischen Revolutionen die „Bewegung 20. Februar“, die Aufklärung forderte. Viele junge Marokkaner haben sich dieser Bewegung angeschlossen. Und viele haben sie auch gehasst.
Wir haben es nicht gleich verstanden. Und doch war es eben diese Bewegung, die sich all jene Forderungen, auch jene, von denen ich hier die ganze Zeit spreche, zu eigen und – sofern das möglich war – auch in der breiten Masse bekannt gemacht hat. Diese Bewegung hat heute in allen marokkanischen Köpfen diesen einfachen Gedanken verankert: Revolution ist möglich.
Die Revolution hat begonnen.
Für die ganze Welt. Für alle Araber.
Abdellah Taia, geb. 1973, ist der erste arabische Schriftsteller, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt hat. Sein aktueller Roman Le jour du Roi (Prix de Flore 2010) erscheint 2012 bei Suhrkamp
Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt.
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