Der Hintergrund der Trauer

Hanau Die Opfer waren keine Flüchtlinge, Migranten oder Bürger mit „Migrationshintergrund“ – sie waren in erster Linie Menschen, die in Deutschland ihr Leben leben wollten
Gökhan Gültekin (linke Fotografie) unterstützte seinen Vater bei seinem Kampf gegen den Krebs und hatte gerade ein Umzugsunternehmen gegründet. Ferhat Ünvar (rechtes Bild) hatte gerade seine Ausbildung abgeschlossen
Gökhan Gültekin (linke Fotografie) unterstützte seinen Vater bei seinem Kampf gegen den Krebs und hatte gerade ein Umzugsunternehmen gegründet. Ferhat Ünvar (rechtes Bild) hatte gerade seine Ausbildung abgeschlossen

Foto: Patrick Hertzog/AFP via Getty Images

Migrationshintergrund, damit wird der Hintergrund jener Menschen beschrieben, die am 19. Februar von einem Rechtsterroristen in Hanau erschossen wurden. Dabei hatten sie ganz unterschiedliche Hintergründe: deutsche, türkische, bulgarische, bosnisch-herzegowinische, Sinti und Roma, afghanische. Und kurdische. Kurdische Hintergründe alleine sind schon Mehrzahl: unterschiedliche Leben.

In Hanau sitzt Gökhan Gültekins Vater im Vereinshaus der aus Ağrı stammenden Kurden und nimmt Beileidswünsche an. Vor mehr als 50 Jahren siedelte er nach Hanau über – von der kurdischen 107.839 Einwohner-Stadt am Fuße des Berges Ararat, wo einst die Arche Noah gelandet sein soll, nach der großen Flut. Das erzählt die Bibel, und der Koran.

Sein Sohn Gökhan arbeitete in der Shisha-Bar in Hanau, die Zielscheibe des rassistischen Attentäters wurde. Der 37-Jährige unterstützte seinen Vater, den Krebs zu bekämpfen, begleitete ihn zur Chemotherapie. Er lebte bei seinen Eltern, hatte gerade ein Umzugsunternehmen gegründet. Das Foto seines Sohnes nimmt Gültekin aus seiner Jacke heraus, zeigt es einem älteren Mann, der neben ihm sitzt, und fragt ihn mit heiserer Stimme: „Kanntest du ihn?“

Gökhan Gültekins älterer Bruder Cetin findet keine Worte. Dann erklärt er: „Fremder Schmerz geht nicht ans Herz. Niemand kann unseren Schmerz empfinden. Ich kann ihn nicht in Worte fassen.“

Auch der 22-jährige Ferhat Ünvar ist in Hanau geboren. Er war der älteste von vier Geschwistern. Seine Lehre als Anlagenmechaniker schloss er vor kurzem ab. Ferhat lebte in der dritten Generation in Hanau; bereits sein Großvater kam aus der kurdischen Stadt Mardin im heutigen Südosten der Türkei, 20 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Er kam als Gastarbeiter und diente dem wirtschaftlichen Aufbau Deutschlands.

Kurde? Migrant? Muslim?

Wie die meisten Jugendlichen kurdischer Herkunft hörte Ferhat gerne Rapmusik – ein Genre, welches gerade für diese Generation identitätsstiftend ist. Für junge Menschen mit kurdischen Hintergrund ebenso wie für viele andere. Ferhats Mutter sitzt im Vereinshaus der kurdischen Gemeinde in Hanau und bricht immer wieder in Tränen aus. Angesichts des unbeschreiblichen Leides hat Sprache seine Grenzen, verwandelt sich zu Worthülsen.

Was für einen „Hintergrund“ hat also diese Trauer?

Die Zahl von Kurdinnen und Kurden in Deutschland wird inzwischen auf 1,5 Millionen geschätzt. Viele kamen im Zuge der Arbeiteranwerbung in den 1960er Jahren, eine zweite Phase kurdischer Migration nach Deutschland setzte Anfang der 1980er Jahre mit dem Militärputsch in der Türkei und dem Iran-Irak-Krieg ein; in den 1990er Jahren flohen viele Kurden vor dem zweiten Golfkrieg, seit 2011 dann aus Syrien und vor der Repression.

Wie werden sie in Deutschland gesehen? Als Migranten? Als Flüchtlinge? Als Deutsche mit kurdischer Einwanderungsgeschichte? Als Kurden, als die sie offiziell aber nicht gelten, weil sie keinen eigenen Staat haben? Als Muslime, die viele von ihnen sind, einige aber auch nicht? Es gibt muslimische Kurdinnen, darunter Aleviten und Sunniten, es gibt jesidische Kurden, und noch einige weitere Religionsgruppen.

Viele von ihnen haben in Deutschland einen Zufluchtsort gefunden, aber hier hören und lesen sie in den Medien von einer AfD, die in Thüringen von zwei deutschen Parteien als politischer Partner akzeptiert wurde. Und die sie hier nicht haben will. Immer, wenn AfD-Politiker in jenen Medien sprechen, die Kurdinnen und Kurden mit ihren Gebühren mitfinanzieren, empfinden sie Erniedrigung und Ausgrenzung. Viele fühlen sich allein und schutzlos.

„Wohin mit uns?“, diese Frage stellen die Menschen hier in der Hanauer Community. 40 Millionen Kurdinnen und Kurden haben in ihren Herkunftsländern keine Perspektive. Und in Deutschland?

Ein 13-Jähriger wendet sich an seine Mutter, er kommt aus dem Ruhrgebiet, die kurdische Heimat seiner Eltern im Südosten der Türkei kennt er nur als Urlaubsort. „In welchem Land könnten wir denn Leben, wenn die so weiter machen?“

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