Mit einem Strahlen im Gesicht unterhält sich der zehnjährige Kenan mit seiner Großmutter. Beide leben im Zeltlager Shekhan abseits der Stadt Doh uk in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak. Für einen Moment scheint das Leid, das Kenan und seiner Familie widerfahren ist, vergessen zu sein. Die Liebe der Großmutter, einer abgemagerten Frau von 80 Jahren, lässt sich an ihren Augen ablesen. Immer wieder umarmt sie ihren Enkel, beide erzählen sich irgendetwas, was ich nicht verstehen kann.
Als der Vater bemerkt, wie sehr sich der Besucher beiden zugewandt hat, erzählt er mir, dass er seinen Sohn gegen ein Lösegeld von umgerechnet 25.000 Dollar vom Islamischen Staat (IS) freigekauft habe. Kenan sei vier Jahre lang in den Händen der Islamisten gewesen. Unvorstellbar, wie ein derart kleiner Junge das ertragen konnte und nun wieder lächeln kann. Am rechten Auge sind noch Spuren einer Rauferei mit gleichaltrigen Freunden zu sehen. Wir deuten dies als Zeichen von Normalität und freuen uns.
Schließlich bittet mich der Vater, er heißt Hadschi Ehmed, in sein Zelt. Auf einem Teppich, der den Zementboden bedeckt, nehmen wir Platz. Familienmitglieder kommen und gehen. Jede Geschichte, die sie erzählen, übertrifft an Grauen und Schrecken die vorherige Geschichte. Was die Wirkung steigert, ist die deprimierende Realität der Lagers ringsherum, mit Unrat, Schlamm, Pfützen und der Trostlosigkeit eines Lebens, das absehbar ohne Ziel und Zukunft bleibt.
Neben dem Vater von Kenan sitzt eine seiner sechs Töchter, die vom Alter her Mitte 20 sein könnte. Versunken und teilnahmslos starrt sie vor sich hin. Als ich höre, was ihr passiert ist, habe ich das Gefühl, als sei mein Körper wie gelähmt. Plötzlich steht sie auf und verlässt wortlos das Zelt.
Weshkan wurde von einem IS-Kämpfer entführt, festgehalten und jahrelang immer wieder vergewaltigt. Für sie bezahlte der Vater ein Lösegeld von 40.000 Dollar, nachdem er seine Tochter lange gesucht und schließlich auf einer Internetplattform gefunden hatte, auf der Bilder von Entführten zu sehen waren, verbunden mit Angaben zur Höhe des Lösegeldes, das für eine Freilassung verlangt wird. Weil er das Geld hatte und schnell handelte, konnte Hadschi Ehmed seine Tochter Weshkan retten. Dass sie freikam, war jedoch keine Befreiung von der Erinnerung an Qual und Scham.
Eine Violine auf Reisen
Nun lebt sie eingepfercht in diesem Lager, weit weg von ihrem jesidischen Heimatort Shingal und ohne die Möglichkeit, erfahrenes Leid durch neuen Lebensmut zu verdrängen. Unter diesen erbärmlichen Bedingungen bleibt es ihr verwehrt. Die vor fünf bis sechs Jahren aufgestellten Zelte sind mittlerweile verschlissen und reparaturbedürftig. Beheizt werden sie durch tragbare Gasöfen, die gegen Wind und Kälte wenig ausrichten.
Der Vater zeigt auf die miserable Umgebung und fragt: „Sagt dieses Bild nicht genug über die Situation, in die wir geraten sind?“ Man sieht Kinder ohne Schuhe und ausreichende Kleidung im Winter, viele sehen mager und krank aus. Bei mehr als der Hälfte der Lagerinsassen handelt es sich um Kinder und Jugendliche, die hier vielleicht noch Jahre zubringen müssen. Der 15-jährige Dawud erzählt mir, dass er nicht zur Schule gehe und nicht wisse, wann das je wieder der Fall sein werde. „Ich hänge hier so herum.“ Wer uns zuhört, bestätigt, was der Junge sagt. Die zehnjährige Aydan Dechîl meint, dass sie zwar ihren Platz in einer Schule gefunden habe, aber es nach dem Unterricht keinen warmen und ruhigen Ort für sie gebe, an dem sie lernen könne. Wie alle würde sie von ihrem jesidischen Heimatort Shingal träumen, der so fern und unerreichbar sei. Bis zum Angriff der IS-Kommandos im Sommer 2014 war die Stadt Shingal mit weit über 550.000 Bewohnern das Zentrum der Jesiden im Nordirak. Als der IS die Gegend überrannte, mussten fast alle Jesiden ihr Zuhause verlassen. Es waren Massaker zu befürchten. Was sie damals nicht ahnten: dass sie für eine lange Zeit, womöglich für immer, zu Flüchtlingen im eigenen Land werden würden.
120.000 Jesiden – eine eigenständige ethno-religiöse Minderheit im Irak – flohen in der zweiten Hälfte des Jahres 2014 ins Ausland, die meisten davon später nach Deutschland. Annähernd 400.000 Menschen müssen bis heute ein Lagerdasein im Irak fristen, da eine Rückkehr, zum Beispiel nach Shingal, weiterhin ausgeschlossen bleibt. Zum einen ist die komplette Infrastruktur – seien es Straßen, Geschäfte oder Schulen – nicht mehr vorhanden, zum anderen haben sich dort rivalisierende Milizen niedergelassen, deren auch bewaffnet ausgetragene Konflikte die Wiederkehr von Normalität verhindern. Zehntausende haben deshalb keine andere Wahl, als in den Camps rings um Dohuk oder Slemani wie auch in der Umgebung anderer Städte auszuhalten. Die Vereinten Nationen haben mittlerweile ihre Garantien für das Bestehen dieser Refugien um vier Jahre bis 2024 verlängert.
Laut einer Studie der Flüchtlingsorganisation REACH von 2019 leben im Irak etwa 1.600.000 Flüchtlinge, die sich auch aus anderen Ethnien zusammensetzen. Dabei liegen die meisten Unterkünfte im Nordirak, konkret in der Region Kurdistan, der Heimat von 5,5 Millionen Menschen. Während die Zahl der Flüchtlinge in allen übrigen Gebieten des Landes konstant geblieben ist, steigt sie im Norden wieder an, seit die türkische Armee im Oktober 2019 in Nordsyrien einmarschiert ist und Hunderttausende in die Flucht getrieben hat.
Im Lager Shekhan treffe ich den aus Barcelona stammenden kurdischen Musiker Gani Mirzo. Unterstützt von der Organisation „Musiker ohne Grenzen“ und dem Konservatorium der katalanischen Metropole, hat er sich einem Projekt verschrieben, mit dem Kinder und Jugendliche mit Musik für eine gewisse Zeit ihrem trostlosen Dasein entrissen werden sollen. Mirzo sammelte Gitarren, Violinen, Flöten und Celli aus zweiter Hand, um sie unter kurdischen Flüchtlingskindern im nordsyrischen Qamischli zu verschenken. Seine Begründung für diese Aktion: „Ich wollte sehen, wie das Lächeln in ihre Gesichter zurückkehrt.“ Als der Musiklehrer Fahad aus dem jesidischen Shingal im Nordirak ein Video über diese Aktion auf Facebook sieht, kontaktiert er Mirzo und fragt, ob er eine Violine bekommen könne. Mirzo erzählt, dass er von diesem Wunsch sehr betroffen gewesen sei. „Schließlich rief ich einen baskischen Freund an, der professionell Violine spielte. Als ich ihm von dem Wunsch des Lehrers Fahad berichtete, schickte er mir wenig später ein 200 Jahre altes Instrument, das ich nach Kurdistan mitnahm.“
Als Mirzo die Zustände im zerstörten Shingal sieht, gründet er umgehend einen kleinen Musikladen, in dem Kinder lernen können, ein Instrument zu spielen. Daraus ist inzwischen ein Kulturzentrum geworden, das der Musiklehrer Fahad verantwortet und das von 30 Mädchen wie Jungen unterschiedlichen Alters besucht wird. Dreimal wöchentlich können sie hier eine halbe Stunde Einzelunterricht nehmen, ihr Schicksal vergessen und sich ihrem Instrument ganz hingeben. In den Schulferien kommen an manchem Tag bis zu 120 Interessenten zusammen, was der 23-jährige Fahad so erklärt: „Die Kinder und Jugendlichen lernen bei uns nicht nur, ein Instrument zu spielen, sie erfahren dadurch auch eine psychologische Therapie und verarbeiten erlebte Traumata. Diese Wirkung übertrifft das Musikalische, und wir hoffen, dass die Kinder einander so auch näherkommen.“ Der Schüler Ayaz Daoud Suleyman hat uns zugehört. Man musiziere, sagt er, weil Klang und Rhythmus die Laute des tristen Alltags übertönten.
Surreale Situation
Zusammen mit Gani Mirzo und dem aus der Türkei geflohenen Intellektuellen Ibrahim Halil Baran besuche ich zu guter Letzt zwei Dichterfreunde jesidischer Herkunft im Camp Keberto, das ebenfalls unweit von Dohuk liegt. Die Aufregung ist zu groß, als dass wir auf einen heißen Tee warten könnten. Sofort sollen uns die beiden Poeten Dawud Zandini und Dachil Garo im Zelt ihre Gedichte vorlesen, während die Zuhörer vor einem kleinen Gasofen sitzen.
Als sie fertig sind, bitten sie mich, einige meiner Übersetzungen von der deutschen in die kurdische Sprache vorzutragen. Von dem Handy aus lese ich ihnen ein kurzes Gedicht aus Goethes West-östlichem Divan vor: „Was ist schwer zu verbergen? / Das Feuer! / Denn bei Tage verrät’s der Rauch, / Bei Nacht die Flamme, das Ungeheuer. / Ferner ist schwer zu verbergen auch / Die Liebe; noch so stille gehegt, / Sie doch gar leicht aus den Augen schlägt. / Am schwersten zu bergen ist ein Gedicht, / Man stellt es untern Scheffel nicht. / Hat es der Dichter frisch gesungen, / So ist er ganz davon durchdrungen.“
Als danach ein Sohn des Dichters Dachil Garo den Musiker Gani Mirzo bittet, ihm auf seiner Gitarre etwas vorzuspielen, raunt einer der Besucher: „Was für eine surreale Situation! Im Flüchtlingslager Dichtung und Musik.“
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