Wer ist Schuld an der AfD? - Diese Frage wird häufig gestellt und meiner Ansicht nach werden die falschen Antworten darauf geliefert – weil die Antworten darauf abzielen, dass es jetzt im Jahr 2017 irgendwie möglich gewesen wäre, den Einzug der AfD durch irgendein Verhalten zu verhindern, sei es durch Übernahme der Forderungen, durch Aufklärung der AfD-Wähler oder sonstwas.
Dem muss ich widersprechen. Der Nährboden für die Erfolge der AfD wurde seit der Wiedervereinigung gelegt.
Wie ich zu dieser Annahme komme, möchte ich gleich darlegen. Zuerst muss ich aber eine Vorannahme darstellen, auf der meine These beruht:
Der AfD-Wähler (bzw. die Mehrheit dieser) ist Rechtsextrem und wählt aus Überzeugung und nicht aus Protest und er war es schon vor 15-20 Jahren. Nur damals hatte er Hemmungen, er traute sich nicht. Dazu gibt es mehrere Artikel und Studien, die diese Vorannahme stützen:
http://www.belltower.news/artikel/die-l%C3%BCge-von-der-protestpartei-12699
http://www.uni-leipzig.de/pressedaten/dokumente/dok_20160615154026_34260c0426.pdf
Vor allem die Mitte-Studie der Uni-Leipzig zeigt schön auf, dass sich die Rechtsextremen Einstellungen innerhalb der Gesellschaft seit 2002 (Beginn der Untersuchungen) wenig verändert haben. Was hat sich also im Vergleich zu 2002 geändert, zu einem Zeitpunkt, wo Rechtsextreme Parteien nur vereinzelt in Landtagen vertreten waren (Brandenburg, Sachsen-Anhalt die DVU)?
Kurz gesagt: Die etablierten Parteien CDU, SPD, Grüne und auch FDP setzen seit 2002 verstärkt auf eine Politik und Rhetorik, die Menschen verachtet. Und das hat ein Teil der Wähler verinnerlicht und Hemmungen abgebaut, Menschenverachtende Dinge auch in die Öffentlichkeit zu tragen.
Schon kurz nach der Wiedervereinigung war es in Westdeutschland Usus, mit Verachtung auf die Ossis zu blicken, während gleichzeitig die blühenden Landschaften ausblieben, die Kohl versprochen hatte. Dies führte schon zu Verstimmungen in Ostdeutschland, weshalb die DVU es schaffen konnte, in Brandenburg (1999) und Sachsen-Anhalt (1998) in Landtage einzuziehen.
Aber nach 2002 passiert etwas, das die politische Landschaft langfristig verändern sollte. SPD und Grüne führten (mit Verschärfungen durch CDU und FDP) die Hartz-Gesetze ein. Dabei verwendenten sie eine Rhetorik, die ihre Verachtung für die von den Hartz-Gesetzen Betroffenen zum Ausdruck brachte. Sie seien Sozialschmarotzer, die sich auf der sozialen Hängematte breit machten. Gleichzeitig ist die Institution Hartz4 eine Maschinerie, die vor Menschenverachtung und Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelschicksal nur so strotzt. Die vier großen Parteien haben gezeigt, es ist okay, Menschen aufgrund ihres sozialen Status zu verachten. Was eigentlich ein Tabubruch der deutschen Nachkriegsgesellschaft sein sollte, wurde von den Etablierten kaum kritisiert. Die lautstärkste Opposition dagegen scheiterte 2002 an der 5-Prozenthürde und hatte nur 2 Frauen, die ihre Direktmandate gewonnen hatten, im Bundestag. Was sich als Geburtshilfe für die Linke erweisen würde, würde auch den Nährboden für Erfolge der NPD und AfD liefern. Während die PDS und WASG aufgrund der Ungerechtigkeit erstarkten, erstarkte die NPD bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern (2006) und in Sachsen (2004). Warum? Weil die große Politik gezeigt hat, dass es okay ist, Menschen zu verachten.
Ähnlich ist es mit dem Erstarken der AfD:
Nachdem drei Jahre lang wegen der Euro- und Griechenlandkrise in den Parteien SPD, CDU, FDP und Grünen in ihrer Politik und ihren Aussagen nur Verachtung für den faulen Griechen übrig war, hat sich die AfD gegründet, um jegliche Europäische Solidarität aufzukündigen. Nur wurde diese Solidarität schon vorher aufgekündigt. Schäuble machte für die Regierung klar, die griechische Bevölkerung habe gefälligst zu leiden, für ihre Faulheit, für ihre Vergehen, für das Wählen der falschen Regierungsparteien. Die gesamte Griechenlandpolitik der Bundesrepublik strotzte nur so vor Verachtung und Hass gegenüber den Griechen. Während bei den Hartz4-Gesetzen die schlimmen Folgen wie Obdachlosigkeit, Hunger oder sogar Tod, noch als Fehler im System angesehen wurden (selbst heute behaupten noch immer einige Unverbesserliche, niemand müsse in Deutschland Obdachlos sein und die wollen doch auf der Straße leben), war das bei Griechenland bewusst gewollt in Kauf genommen. Es gehörte zur Strafe, die dem gesamten griechischen Volke auferlegt wurde. Und Teile der deutschen Bevölkerung jubelten darüber.
Und dann kam die sogenannte Flüchtlingskrise. Während Merkel noch als Flüchtlingsretterin dargestellt wird, ist die reale Politik das Gegenteil davon: CDU, SPD, FDP und Grüne haben im Bundestag und Bundesrat die Asylgesetze immer weiter geschliffen und das Recht auf Asyl defacto abgeschafft. Sie haben verhindert, dass Geflüchtete in der EU gerecht verteilt werden und die Mittelmeerstaaten mit ihren Problemen alleingelassen. Es wurde nichts gegen ertrinkende Geflüchtete getan, und dann noch Deals mit Erdogan geschlossen, damit dieser ihnen die Geflüchteten vom Leib hielt. Diese Verlogenheit hat dazu beigetragen, dass auch die letzten Rechtsextremen ihre Hemmungen ablegen konnten, ihr wahres Gesicht zu zeigen und zur AfD nachdem Lucke sie verlassen hat, zu stehen.
Der Unterschied zwischen Merkel und Storch in der Flüchtlingspolitik bestand im Extrem doch nur darin, wer auf Geflüchtete schießen darf: Türkische oder deutsche Grenzschützer.
Rechtsextreme und menschenverachtende Einstellungen konnten also in Deutschland in Form der AfD an die Oberfläche kommen, weil in den letzten zwanzig Jahren Politik und Medien eine Politik und Hetze gegen Arbeitslose (Sozialschmarotzer in der sozialen Hängematte), Griechen (lasst sie Leiden) und gegen Flüchtlinge gefahren hat. Der Rechtsextrem eingestellten Teil der Bevölkerung konnte alle Hemmungen fallen lassen und brauchte sich nicht mehr zu verstellen: Wenn es ok ist, gegen Arbeitslose und Griechen zu hetzen, dann ist es das auch bei Geflüchteten und Ausländern. Und im Osten wurde das besonders stark aufgenommen, weil man in fast 30 Jahren Widervereinigung von Politik und dem Westen zusätzlich noch Verachtung entgegen geworfen bekommen hat. Als Sigmar Gabriel Pegida als Pack bezeichnete, hat er den Leuten, die dort standen nur gezeigt, dass sie Recht haben: Verachtung und Hass sind erlaubte, etablierte Mittel heutiger Politik.
Die NPD Anfang der 2000er und die AfD ab 2013 erstarkten, weil die etablierten Parteien durch ihr Verhalten den Nährboden dafür bereitet haben. Die solidarische Gesellschaft wurde aufgekündigt und es wurde von SPD über Grüne bis FDP und CDU klar gemacht: Es ist okay, gegen Arbeitslose zu hetzen, den Griechen Elend an den Hals zu wünschen und es okay zu finden, dass Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken. NPD und jetzt die AfD sind nur die Konsequenz, die Verstärkung dieses Verhaltens, das andere Parteien vorgelebt haben.
Die etablierte Politik hat in ihrer Verantwortung versagt, ein Vorbild zu sein. Sie selbst hat Dinge mit ihren Worten und ihren Taten getan, die sie jetzt bei der AfD so erschrecken. SPD, Grüne, CDU und FDP haben in den letzten 15 Jahren menschenverachtende Politik betrieben und abwertende Sprache verwendet und so den Standard für Anstand so gering gesetzt, dass sich so etwas wie die AfD etablieren konnte.
Nur leider scheint das nicht bei den dafür Verantwortlichen anzukommen, weshalb sie auch schlicht keine Lösungsansätze im Umgang mit der AfD finden können, weil sie nicht bei ihrem eigenen Verhalten und ihrer eigenen Politik anfangen, die im Kern menschenverachtend ist.
Ergänzung nach Erscheinen des Beitrages: Jetzt geht durch die Presse, dass die neue Fraktionschefin der SPD Bundestagsfraktion der Unionsfraktion am liebsten was auf die Fresse geben will. Damit bereitet sie einer weiteren Radikalisierung der Worte den Weg. Wenn die SPD sowas sagt, wie kann man sich dann darüber aufregen, wenn die AfD das nächste Mal Parlamentariern Gewalt androht?
Kommentare 9
"Wir werden sie jagen!"
"Ab morgen kriegen sie in die Fresse!"
Kein Plan, aber grosse Klappe:
Da wächst zusammen was zusammen gehört.
Naja, politisch ist da schon noch ein Unterschied.
Aber wer sowas von sich gibt, darf sich nachher nicht beschweren, wenn es insgesamt rauer wird.
große klappe haben, wildere reden schwingen
= schon eine variante zum: unter den teppich kehren.
die moden, die welt anders zu tapezieren,
politik-machen anders zu interpretieren: delectat.
daß es darauf ankömmt anderes zu praktizieren,
bleibt: minderheiten-einsicht.
Ja es stimmt schon - ein Teil des Problems ist die Entsolidarisierung in der Gesellschaft, und verbunden mit der von den Populisten erzeugten Polarisierung entsteht eine zunehmende Verrohung - und schon lange unter der Oberfläche schlummernde rechtsextremen Tendenzen treten nun offen zutage, man schämt sich derer nicht mehr sondern krakeelt wild rum.
Aber auch Merkels Einschlafpolitk, der lange auch die SPD und Teile der Grünen erlegen sind, ist ein Grund für das rechtsextreme Aufschäumen - vor allem da mit dieser Politik eine Umverteilung von unten nach oben begünstigt wurde.
Ansonsten - Nahles Entgleisung von wegen "eins in die Fresse" fand ich auch schwer daneben. Plumpheit statt Sachkenntnis geschweige denn Visionen oder Charisma - damit tut sich die SPD keinen Gefallen.
Ja, aber normalerweise würde Einschlafpolitik zu einem normalen Regierungswechsel führen, eine demokratische Partei löst die andere ab. Durch die Vergiftung der politischen Debatte, die spätestens mit der Zuschreibung von Sozialschmarotzern begonnen hat, führt das zur Enthemmung der Massen.
Wo bitte ist denn der politische Unterschied? In der Art und Weise der Interpretation des Neoliberalismus?
Es kann sein, dass sich da wieder ein Unterschied aufzeigen wird, zum Großen Thema, der Flüchtlingskrise, gab es keine Unterschiede, es wurde geschwiegen und geschaut, dass man mit der AfD ein Auffangbecken der nationalen Gesinnung findet, das den rest der Ideologie nicht stört. Hätte man die AfD verhindern wollen, hätte man das geschafft, mit eindringlichen Erläuterungen zur Differenzierung des Wortes "Flüchtling" und den ensprechenden Gesetzen. Dann hätte Klarheit geherrscht. Konjunktiv. Es hat aber Klarheit darin geherrscht, das die "Etablierten" die Fresse halten (das Wort ist ja seit vorgestern vornehm...) und das Feld der Empörung der AfD überlassen.
Nein, eine Differenzierung findet ich in den Mausfeldschen Kartellparteien nirgends: niemand spricht die wahren Ursachen an, auch die AfD nicht: den entartenden Kapitalismus, das Wirtschaften auf Kosten armer Menschen in fremden Ländern. Das Aussaugen jedweden Lebens zur Mehrung der Rendite.
Also final: in großen, wichtigen Themen gibt es keine Unterschiede.
Der Unterschied zwischen der AfD und fast allen anderen Parteien ist natürlich nicht im Neoliberalen, sondern im Gesellschaftsliberalen. Während selbst die CDU so langsam beim "Leben und Leben lassen" angekommen ist, will die AfD im Grunde allen genau vorschreiben, wie sie zu leben haben, bzw. die ausmerzen, die nicht in ihr Lebensbild passen. Der FDP ist es egal, wie du aussiehst oder wo du herkommst, welche Religion oder Sexualität du hast, solange du den kapitalistischen Mehrwert bringst. Bei der AfD musst du den kapitalistischen Mehrwehrt bringen und dazu noch weiß, deutsch, männlich, ausländerfeindlich und Hetero sein.
Die CDU ist CDU/CSU und die sind nicht beim Leben und Lebenlassen angekommen (eher wohl töten und töten lassen, im internationalen Kontext).
Die anderen Punkte sehe ich ähnlich. Kartellparteien, die gesellschaftlichen Aspekte sind m.E. Wattebäuschchen. Für mich jedenfalls solange viel unwichtiger, bis sie wichtig werden. Sie unterliegen ja dem neoliberalen Grundgedanken, sind sozusagen dessen geistige Kinder.
Ich glaube, dass das ein Problem einiger Linker Strömungen ist, solche gesellschaftlichen Aspekte auszublenden und als unwichtig zu betrachten. Das machen m.M. nach vor allem diejenigen, die am wenigsten davon betroffen sind. Andererseits kann ich auch die Angst verstehen, dass sich dann die Frauen, LGBTI, POCs dann vom Kampf gegen das System abwenden, sobald sie dann im Kapitalismus gleich gestellt sind. Aber das ist ein bisschen Verelendungstheorie mit der ich meine Probleme habe.