Überschwemmungen in Pakistan: Das Wasser ist noch da

Selbsthilfe Für die Women Democratic Front (WDF) in Pakistan haben sich Frauen, die Opfer der Überschwemmungen im letzten Jahr waren, zusammengefunden. Sie helfen jetzt Frauen und Familien, die noch immer in Notunterkünften festsitzen
Ausgabe 09/2023
Es war die schlimmste Überschwemmungskatastrophe der Welt seit zwölf Jahren. Auch die von 2010 ereignete sich in Pakistan
Es war die schlimmste Überschwemmungskatastrophe der Welt seit zwölf Jahren. Auch die von 2010 ereignete sich in Pakistan

Foto: Abdul Majeed/Getty Images

Es war furchtbar und herzzerreißend, was während des vergangenen Jahres in Pakistan geschah. Die Überschwemmungen erreichten ein solches Ausmaß, wie ich dies zu meinen Lebzeiten noch nie erlebt hatte. Im Sommer 2022 verursachten außergewöhnlich starke Monsunregen ein Hochwasser, das über Monate nicht zurückging und ganze Landstriche unter sich begrub. Es seien mehr als 1.700 Menschen ums Leben gekommen, teilte die Regierung von Premierminister Shehbaz Sharif Anfang November schließlich mit, man rechne mit neun bis zehn Milliarden Dollar, die für den Wiederaufbau gebraucht würden. Das Land suchte erneut eine Katastrophe heim, wie es sie bereits im Jahr 2010 gegeben hatte.

Zehntausende von Häusern gingen verloren, desgleichen Brücken, Straßen und Schienenwege, Millionen Menschen wurden obdachlos. Mein Viertel in Nasirabad, einer Stadt im Distrikt Qambar Shahdadkot in der Provinz Sindh, war überflutet und danach unbewohnbar. Mit den beiden Kindern und meinem Mann musste ich zu meiner Mutter ziehen. Vorübergehend waren es drei Familien, die bei ihr in einem Zimmer lebten – meine Schwester und ihr Mann, mein Bruder, dazu noch dessen Kinder. Mehr als 20 Menschen unter einem Dach, von dem wir befürchteten, dass es über uns zusammenbrechen könnte. Aber ich hatte immerhin das Glück, eine – wenn auch provisorische – Unterkunft zu haben. Millionen suchten danach vergeblich. Weil ich mir dessen bewusst war und die eigene Erfahrungen motivierte, begann ich Monate nach dem Desaster zu helfen, dem zerstörten Leben meiner Landsleute wieder einen Sinn zu geben.

Wenn das Dach herunterfällt

Das Bedürfnis, Beistand zu geben, hat mich in die Women Democratic Front (WDF) geführt. Es handelt sich um eine Hilfsorganisation, die Witwen finanziell unterstützt und älteren Frauen mit akuten Gesundheitsproblemen zur Seite steht. Was wir in unserem Distrikt tun konnten, schien zunächst wenig zu sein. In einem ersten Anlauf waren es nur 85 Frauen, denen unsere Hilfe zugutekam.

Gleichzeitig erfuhren wir von beklagenswerten Zuständen, nachdem wir Camps entlang der Highways besucht hatten, die befahrbar waren. Frauen, besonders Schwangere, und viele Kinder lebten auch Monate nach der Katastrophe in den Notunterkünften noch immer mit der Kleidung, die sie trugen, als sie dort ankamen und Schutz suchten. Wir haben ihnen etwas zum Anziehen beschafft, wir haben Damenbinden verteilt, wir gaben Kindern Spielzeug, um sie von ihrer Langeweile und einsamen Traurigkeit abzulenken. Wie wir feststellten, gab es in den Lagern nur Gemeinschafts-, keine Damentoiletten.

Manche Frauen sagten uns hinter vorgehaltener Hand, sie würden nur nachts in Gruppen zu den Waschräumen gehen. Sie lebten in der ständigen Angst, sexuell belästigt oder missbraucht zu werden. Ebenfalls in diesem Camp gestrandet waren Studentinnen aus einem College in Nasirabad, die in einem ziemlich baufälligen, heruntergekommenen Gebäude schliefen. Nur das bot ihnen Schutz, auch wenn andere darauf verzichteten, dieses Wrack von einem Haus auch nur für eine Minute zu betreten. Ich fragte eine Studentin: „Was ist, wenn das Dach herunterfällt?“ Sie antwortete: „Wir befürchten, dass sich uns Männer nähern, sollten wir draußen schlafen. Glauben Sie mir, es ist besser zu sterben, als vergewaltigt zu werden.“

Am bedürftigsten in diesem Refugium der Trostlosigkeit schienen schwangere Frauen zu sein. Sie hatten kaum Zugang zu medizinischer Versorgung. Ich bat sie, wenigstens die Medikamente einzunehmen, die sie in ihrer Lage brauchten. Ich erhielt zur Antwort: „Wir haben nichts zu essen, wie sollten wir da Medizin haben?“ Die Women Democratic Front sorgte daraufhin dafür, dass aus einem anderen Hilfscamp Ärzte und spezialisierte Gesundheitshelferinnen kamen, um nach diesen Patientinnen zu sehen – vor allem um Medikamente zu verteilen. Seit diese Aktion begann, wurden mehr als 300 Personen behandelt. Und es werden nicht weniger. Inzwischen machen sich gefährliche Infektionskrankheiten bemerkbar wie Ruhr und Typhus, es gibt Fälle von Malaria und Dengue-Fieber.

In den ersten Tagen meiner Beteiligung an den Hilfsmaßnahmen konnte ich nicht schlafen, wenn ich nach Hause zurückgekehrt war. Ich fand es traumatisch, was ich erlebt hatte. Ich fühlte mich hilflos, weil wir mit unserer Organisation einfach nicht in der Lage waren, alle Frauen so zu unterstützen, wie das notwendig gewesen wäre. Ich musste die Geschichten, denen ich begegnete, mit meinem Mann teilen. Es wäre sonst nicht zu verkraften gewesen, was ich hörte und sah. Nachts habe ich oft geweint, gelindert hat den Schmerz nur das Gefühl, etwas zu tun.

Was mich am meisten störte – die Regierung handelte einfach nicht effizient genug, um die Menschen zu erreichen. Gerade die Administration der Provinz Sindh hatte durchaus die Ressourcen, wirksam zu helfen, aber auch sie erwies sich als überfordert.

Die Stimmung aufhellen

Immer wieder gab es Lichtblicke in dieser düsteren Zeit. In einem Dorf, das wir besuchten, hatten einige Frauen ein Fernsehgerät ergattert und es geschafft, den Apparat ans Stromnetz anzuschließen. In einem Zelt draußen vor dem Dorf versammelten sie sich, um Seifenopern und Spielfilme zu sehen und für einen Augenblick zu vergessen, was ihnen passiert war. Eine junge Frau sagte mir: „Alle hier sind deprimiert und besorgt, da ist alles willkommen, was die Stimmung aufhellt und uns zum Lachen bringt.

Monate nach den Überschwemmungen ist das Wasser zum Teil noch da. Viele Familien – auch auf meine trifft das zu – sind inzwischen in ihre heruntergekommenen Häuser zurückgekehrt und leben in Zelten, die sie inmitten der Rohbauten aufgestellt haben. Daraus sollen früher oder später wieder ihre Behausungen werden.“ Bevor wir das Dorf verließen, gaben wir den Leuten Kleidung und Decken. Wie wir das immer tun. Die Arbeit geht weiter.

Abida Channa ist Bezirksvorsitzende der Women Democratic Front (WDF), einer sozialistisch-feministischen Hilfsorganisation in Pakistan

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden