Auf der Suche nach den Ursprüngen

Djihad Eine Einführung in die theologischen und historischen Hintergründe des heutigen Djihad – Teil 1

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Der Koran
Der Koran

Bild: PEDRO ARMESTRE/AFP/Getty Images

Sie ist wieder da. Die Debatte über den Islam, über die Muslime, über den Terrorismus. Oft genug wird zwischen diesen drei Begriffen hin und her gewechselt, vermischt mit den Wörtern Salafismus, Wahabismus, Djihadismus. Fast 15 Jahre nachdem man den war on terror ausgerufen hat, ist man immer noch nicht zu einer Definition gekommen, die umfasst, um was es eigentlich gehen soll. Ob radikale Djihadisten, djihadistische Extremisten, extremistische Islamisten oder islamistische Terroristen, man hat schon fast alles gehört in Bezug auf die Attentäter von Paris. Alle dieser Begriffe sollen als Grundlage für eine Diskussion dienen, die den Ursprung des Terrors ergründen will. Doch wie soll das geschehen, wenn es nicht mal eine klare Definition gibt?

Zugegebenermaßen sind die Begrifflichkeiten nicht einfach zu durchschauen, weil sie alle an gewissen Stellen Verbindungen zueinander aufweisen. Dennoch ist es gerade deswegen essentiell, zu differenzieren und so eine fundierte, sachliche Debatte führen zu können. Solange man den Terrorismus mit dem Islam in seiner Gesamtheit verbindet, werden Stimmen aufkommen, die dagegen halten; und so wird der eigentliche Sinn der Diskussionen untergraben. Besser wäre es, wenn man alle Begrifflichkeiten, die im Bezug zu Anschlägen von religiös motivierten Gruppen fallen, ordentlich voneinander trennt und separat betrachtet. Denn dann würde man dem eigentlichen Kern des Islamismus/Djihadismus/Extremismus deutlich näher kommen und anfangen, die richtigen Fragen zu stellen.

Die Salafiyya

Um den Grundgedanken des heutigen Extremismus zu erforschen, bedarf es einer kleinen Einführung in islamische Theologie und der Geschichte des Kolonialismus. Denn die Bewegung, die später nach einigen Umwegen zum gedanklichen Korsett für den heutigen Terrorismus heranwuchs, ist zu einem Zeitpunkt entstanden, zu dem mehr als zwei Drittel der Erde unter kolonialer Herrschaft standen und die islamischen Rechtsgelehrten sich schwierigen Fragen stellen mussten.

Ein idealer Repräsentant des damals herrschenden Zeitgeists ist der berühmte Orientalist und britische Kolonialpolitiker Sir William Muir. Muir gilt bis heute als einer der bedeutendsten westlichen Islamwissenschaftler des 19. Jahrhundert. Prägend für Europäer war seine Biografie des Propheten, prägend für viele islamische Rechtsgelehrte seine harsche Kritik am Islam. Seinen Gedanken nach war der Islam weder mit moderner Wissenschaft noch mit der damaligen zivilisierten Welt vereinbar. Er schrieb unter anderem, dass „Mohammeds Schwert und der Koran die tödlichsten Feinde der Zivilisation [sind], die die Menschheit bisher erlebt hat“. Gründe für seine Ausführung sind nicht nur allein in seinen persönlichen Überzeugungen zu finden, sondern insbesondere in der Tatsache, dass zu jener Zeit die Briten über den indischen Subkontinent herrschten und er dazu beitragen wollte, die Einheimischen als „Wilde“ darzustellen, für die die Herrschaft der „Zivilisierten“ ein Geschenk ist.

Jedoch fühlten sich viele muslimische Inder von Muirs Aussagen provoziert. Einige brachten ihren Zorn in gewaltsamen Ausschreitungen zum Ausdruck, andere, dazu zählten insbesondere islamische Rechtsgelehrte, konterten ihn auf theologischer Basis. Einer dieser Männer war Sir Sayyid Ahmed Khan, einem der Initiatoren des Reformislams, was man heute auch als die Bewegung der Salafiyya bezeichnet.

Über die Suche nach Antworten…

Der Reformislam entstand zu einer Zeit, in der die islamische Welt vor den Trümmern ihrer historischen Existenz lag. Nahezu der gesamte Mittlere Osten stand während des 18. und 19. Jahrhundert unter kolonialer Herrschaft, sowohl wissenschaftlich als auch militärisch hatte man den Anschluss an die Europäer verloren und musste sich die Frage stellen: Warum? Der tiefe Fall von einem Weltreich, das sich zeitweise von Indien bis nach Spanien erstreckte, zu einem zersplitterten Gebilde, das Fremde verwalteten, wurde als tiefes Trauma wahrgenommen. Viele islamische Gelehrte blickten für die Antwort auf die Frage in die Vergangenheit, knapp 1000 Jahre zurück, bei den Salaf, den Altvorderen, der ersten Prophetengemeinde. Für sie war nicht der materielle oder technische Zustand der damaligen Zeit erstrebenswert, sondern der Geist, der in dieser herrschte. Dieser geistliche Zustand, mit der, so der Gedanke, alle fremden Herrscher vertrieben werden könnten und die Umma zu altem Glanz verhelfen, war die Lösung für alle Probleme der Gegenwart.

Dies ist an ein wichtiger Aspekt, denn eine ähnliche Argumentation wird auch heute noch von den sogenannten salafistischen Predigern verwendet. Die Idealisierung der damaligen Prophetengemeinde ist ein zentraler Bestandteil der heutigen Strömung, die als Salafismus bezeichnet wird. Während jedoch die ursprüngliche Salafiyya die Lösung aus der Misere in einer Art Vorwärts-Reformation des Islams sah – so versuchte Ahmed Khan die Verbindung zwischen moderner Wissenschaft und Koran abzuleiten und band das Prinzip der Rationalität in den Glauben mit ein –, liegt für die heutigen Salafisten die Lösung in der Vergangenheit. Indem sie eins zu eins das Leben des Propheten, wie sie es aus Überlieferungen (hadith) kennen, ausleben, erreichen sie jene Einheit, jene Überlegenheit von damals. Alles, was in ihren Augen ein Abkommen von der früheren Lebensweise bewirkt, ist unerlaubt, eine sogenannte bida’a. Dieser Puritanismus ist ein zentraler Bestandteil des Glaubensbildes.

…und das Finden in der Tradition

Theologisch gefüttert werden sie dabei von den Lehren eines Mannes, der einen großen Stellenwert im orthodoxen, sunnitischen Islam besitzt und als einer der Vorreiter des heutigen Konservatismus gilt: Ahmad ibn Hanbal. Seine Geschichte ist eng verknüpft mit der Minha unter dem Abbasiden-Kalifen al Mam’un und dessen Nachfolgern. Ibn Hanbal prägte den Begriff der bida’a und ordnete jegliche Reformation im Islam als eine „unerlaubte Neuerung“ ein. Er war der zentrale Gegenspieler der damaligen Bewegung der Mut’azila, die über Einbindung von Verstand und Vernunft die göttliche Offenbarung zu ergründen suchten und sich an griechischen Philosophen orientierten. Es war übrigens al Mam’un zu verdanken, dass die europäische Renaissance rund 700 Jahre später griechische und römische Gedanken aufgreifen konnte, da viele Bücher aus der Antike im Bagdader Bayt al-Hikma, Haus des Wissens, gesammelt und ins Arabische übersetzt wurden. Die Einbindung von Philosophie und Disziplinen wie dem kalam oder quiyas in die islamische Rechtswissenschaft waren für ibn Hanbal bida’as. Für ihn galt die Tradition als der zentrale Punkt im Islam, alles andere lehnte er entschieden ab.

Es ist der letztendliche Sieg jener Orthodoxie von ibn Hanbal über die Mut’azila, die dafür sorgte, dass der Kalif die religiöse Autorität an die eine Gruppe von Rechtsgelehrten verlor, den Ulama. Diese Ulama sollten für die nächsten Jahrhunderte das Monopol auf Glaubensfragen halten. Ihre Orthodoxie wurde die Orthodoxie des sunnitischen Islams. Es ist deswegen auch nicht verwunderlich, dass der Gedanke der Reformation unter der Abkehr der Tradition im fernen Indien entstand und von zwei gebürtigen Iranern, von denen zumindest einer 12er-schiitischen Glaubens sein sollte, geprägt wurde – und eben nicht von arabischen Gelehrten im Gebiet des heutigen Mittleren Ostens. Freilich spielten insbesondere im frühen und mittleren 20. Jahrhundert ägyptische Rechtsgelehrte die zentrale Rolle, als aus der Salafiyya die prägenden zwei Konzepte des Jahrtausends entstanden bzw. befeuert wurden: Panislamismus und Panarabismus. Und natürlich: Djihadismus.

Djihad als Antwort

Es ist die Antwort auf die gleiche Frage, die sich so unterschiedlich äußert. Theologen wie Ahmed Khan und auch spätere Träger des Reformislams wie der oben angeschnittene Jamal ad-Din al-Afghani, beschäftigten sich mit den identischen Fragen, kamen aber zu unterschiedlichen Antworten. Der Weg, der vom Reformislam zum letztendlichen Djihadismus führte, ist einer, der eng mit der Entwicklung Ägyptens und der arabischen Welt verknüpft ist; vor, während und nach den beiden Weltkriegen.

Al-Afghani, der einige Zeit als junger Erwachsener in Indien verbrachte und dort mit dem Gedankengut von Ahmed Khan und anderen indischen Theologen in Verbindung kam, verschlug es 1871 nach Kairo, wo er eine Lehrtätigkeit aufnahm. Dessen Verständnis vom Reformislam äußerte sich in der Ablehnung der westlichen Überlegenheit. Für al-Afghani bestand die Antwort auf die berühmte Frage, in der Adaption der alten islamischen Werte an die Moderne. Seine Lösung lag in der Einheit der Muslime. Er war kein früher Salafist, zumindest nicht nach heutigem Standard. Die Rolle der Ulama lehnte er ab, ebenso wie die Orthodoxie. Es waren seine Lehren, die später von seinem Schüler Muhammad Abduh fortgeführt wurden. Abduh bezeichnete sich selbst „Neo-Mut’azila“, wie Ahmed Khan war er ein Verfechter der Rationalität und ein Gegner der traditionellen Orthodoxie. In der berühmten Al-Azhar Universität sah er dementsprechend eine falsche Form des Islams.

Fortgeführt und überarbeitet wurden Abduhs Gedanken von dessen Schülern Rashid Rida und Saad Zaghloul, den bedeutendsten Initiatoren des Panarabismus. Es waren deren Werke, die später ein ehemaliger Grundschullehrer namens Hasan al-Banna aufnahm und in seiner Bewegung implementierte, die als Startpunkt für eine ganze Reihe von Umstürzen in der arabischen Welt galt: Der 1928 gegründeten ikhwan al-muslimun, der Muslimbruderschaft. Es war deren bedeutendstes Mitglied, der heute als Vater des radikalen Islams gilt, dessen Schrift „Meilensteine“, in ägyptischen Gefängnissen unter grausamer Folterung geschrieben, das Manifest des Terrors wurde: Sayyid Qutb. Er begründete den Islamismus, der Staatstheorie einer Gottesherrschaft mittels der Schariah und der Ablehnung aller westlichen Werte. Über die Zerschlagung und Verfolgung der Ikhwan unter dem ägyptischen Präsidenten Gamel Abdel Nasser verbreitete sich die Bewegung im gesamten arabischen Raum und trug den Gedanken von Qutb nach Syrien, Libyen und insbesondere in ein damals junges, auf den ursprünglichen Lehren von ibn Hanbal gegründetes Königreich, wo es sich rasch weiter entwickelte: Saudi Arabien.

Dieser Artikel soll als Einführung in das Feld der Islamwissenschaft dienen und den eigentlichen Hintergrund des Salafismus sowie des Djihadismus umreißen. Es ist nahezu unmöglich, die Komplexität der Ereignisse in einer kurzen Abhandlung zu erläutern, weswegen insbesondere der zweite Teil deutlich verkürzt und knapper gehalten wurde. Es sollte jedoch gezeigt werden, dass der Ursprung des Terrorismus auf Basis des Islams aus einer ursprünglich reformatorischen Bewegung entstanden ist, die das komplette Gegenteil von den heutigen Formen propagierte. Die Rolle, die insbesondere Abd Al-Wahab und der Stammder Al-Sauds spielten, wird noch zu untersuchen sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Abrahan Garcia

Angehender Orientalist

Abrahan Garcia

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