Der tiefe Sturz im freien Fall

Libyen Am 23.Oktober 2011 wurde Libyen für befreit erklärt, doch auch nach drei Jahren ist von dieser Freiheit wenig im Land zu sehen. Von der Arabellion ganz zu schweigen.

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Camp 27, ein ehemaliges amerikanisches Ausbildungslager in der Nähe von Tripolis, das libyschen Spezialeinheiten zusammen mit den Special Forces der USA den Kampf gegen Terror lehrte, wurde vor einiger Zeit von der al-Qaida gestürmt und steht jetzt unter der Kontrolle vom Top-Terrorist Ibrahim Ali Abu Bakr Tantoush, eine Schlüsselfigur des Terrornetzwerkes. Die Stürmung des Terrorbekämpfungslagers durch Islamisten steht sinnbildlich für das Chaos in Libyen, das sich seit dem Sturz von Gaddafi ausbreitete. Während zum Zeitpunkt der Rebellion die Rebellen zusammen agierten und die Milizen gemeinsam gegen Regierungstruppen kämpften, sind momentan jedwede Kämpfergruppen auch untereinander verfeindet. Seperatisten, Nationalisten und Islamisten sprudeln gleichermaßen an den Ecken und Enden des Landes munter hervor, ohne das die momentane Übergangsregierung in Tripolis etwas gegen diese unternehmen könnte.
Das einst reichste Land der Region, das seinen Bewohnern so viel Luxus bieten konnte, droht ein zweites Afghanistan zu werden, wo Warlords einzelne Gebiete kontrollieren und der Terrorismus seine Brutstätte besitzt. Auch wenn sich momentan Libyen noch in eine Art Schwebezustand befindet, die Milizen sich gegenseitig im Schach halten und das komplette Chaos nicht einsetzte, ist dieses Momentum nur das kurze Luftholen im freien Fall, der gerade erst begonnen hat.
Misrata, der mächtigste Stadtstaat im Land, stellt die größte Miliz. Insgesamt sind es knapp 270.000 Kämpfer, die in Libyen ihr Unwesen treiben, einige werden von der Zentralregierung bezahlt, andere von den zahlreichen Stammesfürsten und auch von den militanten Islamistengruppierungen. Ansar el Sharia ist dabei die Stärkste unter ihnen, die sich auch regelmäßig mit der Regierung misst. 2013 hat sie 90 Sicherheitskräfte umgebracht, seit Anfang des Jahres sind es schon mehr als 50 Opfer, während es im November letzten Jahres zu teils heftigen Zusammenstößen zwischen ihnen und Regierungstruppen kam. Auch wenn ihr Angriff auf Misrata komplett vereitelt wurde, sind nicht alle Gebiete in Libyen so widersetzungsfähig als das sie einen Ansturm der Islamisten abschütteln könnten. In Sirte beispielsweise oder in der Nähe von Tripolis sind die Anstürme von Ansar el Sharia deutlich wirkungsvoller gewesen. Gerüchten zufolge stecken sie auch hinter der Entführung des ehemaligen Premierministers Ali Seidan, der im Oktober 2013 von Milizionären verschleppt wurde. Auch sein Nachfolger Abdullah Al Thanni wurde kürzlich von Milizen angegriffen und kündigte deswegen seinen Rücktritt als Oberhaupt des Staates an.
In Libyen wirken sich zudem die Einflüsse der anderen Konfliktgebiete in der Region sehr negativ aus. Die Moslembruderschaft, die in der Übergangsregierung zwar nicht vertreten ist, gilt dennoch als wirkungsvollste Partei im Land. Durch die Einflüsse aus dem Nachbarland Ägypten, wo die Organisation verboten wurde und die Mitglieder verfolgt werden, bekommt der libysche Ableger großen Zuwachs durch Radikale, die vor der ägyptischen Repression fliehen müssen. Ebenso sorgen die zahlreichen Islamisten, die aus Syrien zurückkehren, für großes Konfliktpotenzial, so dass einige Gebiete komplett der Anarchie zerfallen sind. In Bengasi beispielsweise ist ein rechtsfreier Raum entstanden, ähnlich wie in einigen Öl-Häfen an der Küste. Die "Morning Glory", der riesige Öltanker, der von Milizen beladen und vorbei an der staatlichen Ölförderung nach Nordkorea geschickt wurde, unterstreicht die Machtlosigkeit der Zentralregierung in einigen Teilen des Landes. Auch wenn durch Hilfe amerikanischer Spezialeinheiten schlussendlich der Tanker gekapert und zurück geschickt wurde.
Jedoch konnte die Regierung auch einige Teilerfolge vorweisen, Rebellen übergaben Anfang April die zwei Öl-Häfen Al-Hariga und Sueitina, die sie zuvor besetzten. Durch diese beiden Häfen können täglich 210.000 Barrel wieder verschickt werden, was der schwächelnden Wirtschaft des Landes, die vorwiegend von den Brennstoff Exporten abhängt, zugute kommen wird. Zwar werden weiterhin zwei Häfen von Seperatisten besetzt, die dadurch Druck auf die Regierung ausüben wollen, um ein Referendum über mehr Autonomie im Osten abzuhalten, die Rückgabe dieser wird dennoch demnächst verhandelt werden. Auch herrscht Einigkeit im Bezug auf die Bekämpfung des Terrorismus, ein Stadtratsmitglied von Misrata, Youssuf Benyoussuf, versicherte, dass Organisationen wie Ansar el Sharia "Feinde des Landes" seien und gemeinsam zerschlagen werden müssen. Der unglaubliche Luxus wie unter Gaddafi könnte nach seinen Worten bald wieder nach Libyen zurückkehren, in Misrata träumt man von einem "Dubai" Afrikas, das als Schnittstelle zwischen Schwarzafrika, Europa und der arabischen Welt gelten soll. Die Zentralregierung wird es schwer haben, die Seperatisten in Misrata dauerhaft an sich zu binden, ein Sezessionskrieg ist durchaus möglich, auch mit anderen Teilen des Landes. Die östlichen Gebiete der Kyrenaika sehnen sich ebenso nach der Unabhängigkeit, die sie kurzzeitig nach dem 2.Weltkrieg inne hatten.
Die Interimsregierung steht vor schwierigen Aufgaben, die sie bewältigen muss. Nur eine starke Regierung kann den Abrutsch Libyens in ein zersplittertes Land aufhalten, wo neben Milizen vor allem Islamisten ihre Lager aufschlagen könnten. Die riesigen Waffenarsenale Gaddafis wurden bereits massenhaft geplündert und finden sich im Libanon, Syrien oder dem Sudan, laut der UN ist das Land der Hauptlieferant für illegale Waffen. Auch schwere Geräte wie Boden-Luft-Raketen, sogenannte Mind-Pads, die vor allem westliche Staaten in Angst und Schrecken versetzen, sind Berichten zufolge in die Hände von islamistischen Kämpferverbänden gelangt. Sicher ist, dass von libyschen Waffenarsenale aus die regionalen Konflikte usurpiert werden und zur Instabilität des Maschrek und Maghreb beitragen. Dabei sind laut internationalen Berichten rund 170 Milliarden USD der libyschen Regierung eingefroren im Zuge der Revolution gegen Gaddafi, die langsam ins Land zwar zurückfließen, aber an irgendwelchen Stellen versickern und bei den Menschen nicht ankommen. Die Überschuldung Libyens könnte dadurch aufgehalten werden und erste Reformprogramme durchgesetzt, immerhin hat das Land nur knapp 7 Millionen Einwohner. Diesen Reichtum vermissen auch momentan viele Libyer, unter Gaddafi ging es den Einwohnern extrem gut, neben kostenloser medizinischer Versorgung, gab es umfassende Sozialprogramme für die Bevölkerung. Zudem herrschte Frieden und Einheit im Land, auch wenn politische Gegner gnadenlos verfolgt wurden und der libysche Geheimdienst in Manier aller levantinischen Spitzeldienste eine Geister-Tyrannei ausübte.
Durch dieses Machtvakuum, was nach dem Entfernen der kompletten Gaddafi-Administration entstanden ist, entsprangen die Seperatisten und Islamisten ungehindert, gestützt durch den "historischen Fehler", den Milizen Gehälter zu zahlen, so dass diese sich schnell zu Söldnern entwickelten, anstatt nach der Revolution zur Ruhe zu kommen. Auch die fehlende internationale Hilfe, die zwar durchaus vorhanden war, als es darum ging, 80.000 Libyer in der "Flugverbotszone" in den Tod zu schicken, sich aber dezent zurückhielt, als es um eine Neustrukturierung des Landes ging, trug zur der momentanen Lage bei. Dabei ist Libyen durch seine riesigen Erdgas und Erdöl Vorkommen ein geeigneter alternativer Energielieferant für Europa, auch durch seine günstige Lage. Durch eine geeignete und wohl überlegte Unterstützung seitens westlicher Regierungen könnte zudem das strategische Bündnis mit Gaddafi wiederhergestellt werden, das den Flüchtlingsstrom und den Terrorismus in Afrika eindämmte.
In Misrata gibt es ein Schild auf dem steht: "Es ist schön für dein Land zu sterben, aber besser, dafür zu leben." Es besteht die Hoffnung, dass Libyen eines Tages doch kein "failed state" werden wird, wo Drohnen über die Himmel schwirren und das jus naturae gilt. Ein weiteres Jemen oder Afghanistan kann sich die Welt aber auch erlauben.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Abrahan Garcia

Angehender Orientalist

Abrahan Garcia

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