Die andere Hälfte der Geschichte

Irak Als einer der größten Fehler der letzten Jahre betitelt, aber zu unpräzise durchleuchtet, entsteht zum Irak-Krieg ein Narrativ, das zu einseitig denkt. Ein Fehler.

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Alle diskutierten nach dem Chilcot-Report (hier ein Brief von Tony Blair an Georg W. Bush) die Rolle der Briten im Jahr 2003, doch was ist mit den Zeiten davor?
Alle diskutierten nach dem Chilcot-Report (hier ein Brief von Tony Blair an Georg W. Bush) die Rolle der Briten im Jahr 2003, doch was ist mit den Zeiten davor?

Jeff J Mitchell/Getty Images

Der vor einiger Zeit veröffentlichte Chilcot-Report warf Licht auf ein unangenehmes Thema: Den Irak-Krieg von 2003. 2009 vom damaligen Premierminister Großbritanniens Gordon Brown angekündigt, sollte der Bericht von unabhängiger Seite die britische Beteiligung am Einsatz untersuchen und insbesondere klären, unter welchen Aspekten es zur Entscheidung seitens der damaligen Regierung kam, die USA beim Einmarsch in den Irak zu unterstützen; insbesondere um für zukünftige Konflikte solche Fehler zu vermeiden.

Denn als das wird der Krieg gegen den Irak heute gesehen: als großer Fehler. Egal von welcher Seite, das Narrativ eines falschen Krieges, einer fatalen Entscheidung hat sich in unserer heutigen Zeit in nahezu allen Kreisen durchgesetzt. Sogar so weit, dass Präsidentschaftsbewerber in dem Land, das den Einmarsch initiierte, heftig unter Beschuss geraten, wenn sie sich nicht kritisch genug zum Thema positionieren. In diesem Sinne steht auch der Chilcot-Report. Er fragt nicht, ob der Krieg falsch war, sondern wieso man das in der britischen Regierung nicht von Anfang an gesehen hat.

Diese Einstellung ist problematisch. Weil sie dadurch genau die essentielle Frage verhindert:

Was hat der Westen im Irak falsch gemacht?

Indem der gesamte Fokus auf die Märztage von 2003 gelenkt wird, rückt automatisch alles andere in Bezug auf den Irak in den Hintergrund. Ein Jeder diskutiert nach dem Chilcot-Report die Rolle der Briten im Jahr 2003, doch was ist mit den Zeiten davor? Hier ein Zeitungsartikel, der von einem gewissen Lawrence in der Sunday Time veröffentlicht wurde:

Die Menschen Englands wurden in Mesopotamien in eine Falle gelockt, aus der sie nur schwerlich in Würde und Ehre fliehen können. Sie wurden getäuscht durch eine permanente Zurückhaltung von Informationen. Die Bagdader Communiqués sind veraltet, falsch und inkomplett. Die Dinge liefen schlimmer als uns gesagt wurde; unsere Administration ist verdammter und ineffizienter als die Öffentlichkeit ahnt … wir stehen heute kurz vor einem Desaster.

Der Artikel stammt vom berühmten T.E. Lawrence und ist von August 1920. Damals besetzten britische Truppen im Zuge des 1.Weltkrieges den Irak, nachdem es zu einer arabischen Revolte gegen die osmanischen Herrscher gekommen war, bei denen erwähnter Lawrence eine wichtige Rolle spielte. Für die Araber schien ein arabischer Großstaat als Belohnung für die Abschüttelung der türkischen Herren durch die Briten in Aussicht gestellt worden zu sein; eine kapitale Fehleinschätzung wie sich herausstellte. Der Irak kam 1920 offiziell unter britisches Mandat, entgegen aller vorher gemachten Versprechungen. Die verschiedenen Stämme Iraks, zum ersten Mal in ihrer Geschichte geeint, revoltierten abermals, diesmal gegen die Briten. Berichte aus dem Irak zu den damaligen Geschehnissen lesen sich beinahe identisch, wie 83 Jahre später.

Was blieb nach der versuchten Revolution? Über 9.000 tote Iraker, 1.500 tote Briten und ein Brief vom damaligen Luftfahrminister Winston Churchill, in dem er einen Mitarbeiter der Luftwaffe zur weiteren Erforschung von Gasbomben, besonders Senfgas, als sinnvolles Mittel zur Zerschlagung von Aufständen ermuntert. Darüber hinaus folgende Erkenntnis: Die Briten besetzten den Irak mit über 500.000 Mann und merkten, dass das Land unkontrollierbar sei. Wohlgemerkt beim Drittel der heutigen Größe.

Da der Irak dennoch strategisch essentiell für die Briten gewesen ist, installierten sie eine Marionetten-Monarchie, die derart pro-westlich und anti-arabisch agierte, dass sie zunächst entmachtet und später blutig gestürzt wurde.

Fehlende Historisierung

Diese Aspekte unterschlägt der Chilcot-Report, obwohl sie essentiell zum Verständnis des Iraks sind. Anstatt sich nur auf die Entscheidungsfindung von 2003 zu konzentrieren, wäre es wichtiger gewesen, die generelle britische Rolle zu untersuchen. Denn durch diese fehlende Übernahme der Verantwortung wird eine abstrakte, anti-westliche Haltung geradezu genährt.

Auch wenn die Briten Stück für Stück ihre imperiale Position verloren und den Irak als Einflussgebiet aufgaben, wurde die weitere Geschichte des Landes weiterhin von ausländischen Mächten bestimmt. Spätestens nachdem die neue republikanisch-irakische Regierung den 1955 etablierten antikommunistischen Bagdad-Pakt auflöste, lenkten die USA ihren Blick gen Euphrat und Tigris und hielten diesen de facto bis heute.

Das heutige Narrativ des Irak-Krieges und des Umgangs mit Saddam Hussein ignoriert dies jedoch. Die Ereignisse von 2003 haben eine lange Vorgeschichte, die weder 1990/91 während der irakischen Invasion Kuwaits begann, noch 1980 kurz nach der Islamischen Revolution im Iran als der Westen verzweifelt einen Verbündeten gegen die neue Mullah-Regierung suchte; die Anfänge reichen tatsächlich länger zurück und sind tiefgreifend.

Wenn man die Frage beantworten, was der Westen im Irak falsch gemacht hat, was zu unendlich vielen Toten, dem Aufstieg von Da’esh und der Verbreitung von Chaos im Mittleren Osten geführt, muss man anfangen die bisherigen Narrative zu durchbrechen und einen Schritt weiter zu denken. Erst dann wird man vielleicht eine Antwort auf diese Frage finden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Abrahan Garcia

Angehender Orientalist

Abrahan Garcia

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