700 Gramm Brot für 700 Gramm Geld

Montenegro Der lange Weg gen Westen lässt sich nicht im superschnellen Ferrari des Kriegsgewinnlers zurücklegen - schon gar nicht mit Dumping-Löhnen

Wer vom kroatischen Dubrovnik zur montenegrinischen Grenze fährt, erfährt eine Landschaft wie aus einem Reiseprospekt: Felsige Berge fallen schroff ins türkisfarbene Meer, Zypressen stechen zapfenförmig in den Himmel, wurzelartig verschlungene Olivenbäume und weit ausladende Pinien spenden Schatten, dazwischen funkelt gelber Ginster. Nur ab und zu erinnern ein zerbombtes Haus oder eine zerschossene Wand an den Krieg, der die Region Anfang der neunziger Jahre heimsuchte. Der Grenzübergang selbst besteht aus einem Labyrinth von Buden, Containern und Schranken. Auf der schmalen Straße zur Demarkationslinie schwitzen wartende Fahrer in ihren Lastern, uniformierte Beamte sitzen vor tonlosen Fernsehgeräten, Duty-Free-Verkäuferinnen betrachten ihre bemalten Fingernägel und eine montenegrinische Fahne hängt schlaff in der Mittagshitze. Es herrscht Visa-Pflicht, doch niemand kümmert sich darum - jedenfalls nicht bei EU-Bürgern.

Wer sich nach der Grenze der weitverzweigten Bucht von Kotor nähert, dem südlichsten Fjord Europas und dem einzigen mit Palmen, sieht auch hier Häuserruinen. Nur bezeugen sie nicht die Kriege der neunziger Jahre, die nie auf dem Boden Montenegros ausgefochten wurden, sondern ein schweres Erdbeben, das diese Gegend im Jahr 1979 erschütterte.

Spielen Sie Domino?

Wird Montenegro nun unabhängig? Welche Perspektiven hat dieses Land? Um das herauszufinden, fahre ich der Hauptstadt entgegen. Am Straßenrand stehen noch Schilder, die nach "Titograd" weisen, wie Podgorica einen Lidschlag der Geschichte lang hieß. Manchmal ist Tito durchgestrichen, aber nicht oft. Immer wieder sieht man auch in Amtsstuben Bilder des 1982 verstorbenen jugoslawischen Präsidenten, selbst bei Leuten, die erklären, sie seien für die sofortige Unabhängigkeit. "Spielen Sie Domino?", lautet eine häufige Frage, die von Anhängern der staatlichen Eigenständigkeit mit ironischem Unterton gestellt wird. Eine Anspielung auf die westliche Politikerfloskel, wonach ein selbstständiges Montenegro einen Dominoeffekt bewirken und den Unabhängigkeitsdrang etwa der Albaner im Kosovo anfachen werde. Viele Montenegriner wollen wissen, dass diese wenig wahrscheinlich sei. Oft wird für das jetzige Restjugoslawien die Metapher vom falsch zugeknöpften Jackett gebraucht, das geöffnet werden müsse, damit man es richtig knöpfen könne. Ja, man denke schon an eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, sowie einem gemeinsamen Markt mit Serbien - aber nicht mehr. Ein Taxi-Fahrer aus Podgorica, ein kräftiger, bärenhaft-gemütlicher Typ Mitte 30, zeigt mir eine Kopie der Vereinigungserklärung der serbischen und der montenegrinischen Kirche von 1918, die ständig im Handschuhfach seines Autos liegt. Das Papier beweise, so meint er, dass man früher selbstständig war und erst 1918 vereinigt wurde.

Außerhalb von Podgorica zeigt der Blick aus seinem Auto wahre Felsenwälder. Wegen des steinigen Untergrundes lässt sich hier kaum Landwirtschaft betreiben, obwohl das Klima so günstig ist, dass aus jeder Erdspalte zwischen den Felsen ein Baum treibt. Auf dieser Fahrt wird mir klar, warum in der Geschichte der Gegend Familienclans eine so bedeutende Rolle spielten. Als noch keine, in die Berge gesprengten Straßen die Felsentäler verbanden, lebte man isoliert wie auf einer Insel. Die Bewohner sahen sich auf natürliche Weise vor den Begehrlichkeiten anderer abgeschirmt - nur an der Küste konnten Türken und Venezianer Fuß fassen.

Gerade diese, durch Fremdherrschaft geprägten Hafenstädte gelten heute als Hoffnung für ein wirtschaftlich prosperierendes Montenegro. Hier soll bald wieder der Tourismus Geld in leere Kassen spülen, denn neben der ungemein abwechslungsreichen Küste sind diese alten, von Festungen abgeschotteten Arrondissements ein Refugium sondergleichen. Wer ihre engen Gassen durchstreift, kommt an verwitterten Tavernen ebenso wie modernen Boutiquen oder Cafés vorbei und erlebt, wie sonnige, von Palmenhainen abgeschirmte, stille Plätze in den Blick geraten.

Immer wieder lässt sich an solchen Orten ein wachsender Einfluss der beiden orthodoxen Kirchen - der montenegrinischen wie der serbischen - beobachten. In Cetinje, der alten Hauptstadt des Landes, wimmelt es von Kindergruppen, die ins Kloster geschleust werden und sich nach den Erläuterungen eines Mönches in Reih und Glied aufstellen, Reliquien küssen, sich bekreuzigen und einige Münzen auf einen Teller werfen, während der Mönch dazu mit gutturaler Stimme singt.

An einer Kirche in Kotor hängt eine übergroße Fahne - die vier Buchstaben darauf bedeuten: "Nur die Einigkeit rettet Serbien". Serbische Tschetniks sollen sie während des Bosnienkrieges benutzt haben. Er kenne das Problem, pariert der Stadtführer meinen Blick, aber da solle man nicht weiter bohren. Es sei die Fahne der Orthodoxen Kirche. Vor dem Krieg habe man sie nirgends gesehen. Beim Gang durch die Stadt lassen sich die Zeichen der Fahne noch des öfteren als Graffiti ausmachen.

Aber jetzt im kalten Frieden

Gegen Abend verschwindet die Sonne rasch hinter den wuchtigen Bergen, die still und dunkel liegen wie schlafende Fabelwesen; da versteht man, warum das Land wörtlich übersetzt "dunkler Berg" heißt und Mythen gebiert. Eine Dolmetscherin aus Cetinje erzählt mir von ihrem Abiturjahrgang. Niemand ihrer Schulkameraden sei während der Balkankriege des vergangenen Jahrzehnts ums Leben gekommen. Aber jetzt, im kalten Frieden, würden viele den Boden unter den Füßen verlieren - keine Arbeit, keine Zukunftshoffnung, das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Einer sprengte sich mit einer Granate in die Luft, einer sprang von einem Hochhaus, ein anderer ...

Offiziell wird vieles schöngeredet, aber hinter den Fassaden vieler Industriebetriebe bietet sich ein desillusionierendes Bild. So erklärt der Direktor des Salzwerkes in Ulcinj, die Schwierigkeiten - mit verursacht durch die westlichen Sanktionen - seien gravierend, Löhne würden jedoch weiter gezahlt. Gespräche mit Arbeitern entlarven diese Behauptung wenig später als Lüge, seit Monaten warten sie auf ihre kargen Bezüge. Sie fühlen sich hilflos gegenüber einer Führungsschicht, die offenbar nur an sich selbst denkt. Andererseits wirkt diese Fabrik mit ihren rostigen, salzzerfressenen Anlagen wie ein Schrotthaufen, dem jede Zukunft längst abhanden gekommen scheint. Hoffnungsvoller stellt sich die Situation in der Werft von Bijela dar. Zur Zeit liegen in allen Docks Schiffe zur Reparatur, ein großer Frachter ankert in der Bucht. Das sei nicht immer so, höre ich, oftmals könne man die vorhandene Kapazität nicht ausschöpfen. So waren noch im März 129 von 750 Arbeitern und Angestellten beschäftigungslos und standen auf der "Warteliste" - im April waren es dann 141. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote Montenegros bei 30 Prozent, das ganze Ausmaß des Desasters lässt sich allerdings erst ermessen, rechnet man die Arbeiter hinzu, die in diversen Warteschleifen geparkt werden und in keiner Arbeitsmarktstatistik auftauchen.

Auf die ökonomische Misere seines Landes angesprochen, meint Industrieminister Djukanovic - in jugoslawischen Zeiten jahrzehntelang Manager eines Stahlunternehmens -, zu den Minimalbedingungen eines Aufschwungs gehörten ein Übereinkommen mit Belgrad, dazu westliche Kredite und ein florierender Tourismus. Noch aber werde durch Serbien vieles blockiert. Beispielsweise brauche eine Chartermaschine aus Deutschland, die in Montenegro landen wolle, weiterhin eine Genehmigung aus Belgrad, für den Fremdenverkehr kein förderlicher Umstand.

Danilo Popovic, Chef des montenegrinischen Gewerkschaftsbundes und ein kantiger Kerl mit eigener Meinung, erinnert statt dessen an den Wirtschaftsfaktor Krieg. Er sei schon gegen diese mörderische Selbstzerstörung gewesen, als viele der heutigen Anhänger des Weges nach Europa noch Dubrovnik beschossen. Nationalisten hätten ihn sogar bedroht, weil er in Podgorica einer der ersten war, der sich dafür entschuldigte.

"Die Verheerungen für Montenegro haben 1993 begonnen, als ein Brot von 700 Gramm auch 700 Gramm Geldscheine kostete, ein Großteil der Arbeitsplätze vernichtet wurde und der Schwarzmarkt in Blüte stand. Bis heute bekommen nur 50 Prozent der Beschäftigten regelmäßig Lohn, besonders die Industriearbeiter haben darunter zu leiden." Er denke zwar - fährt Popovic fort -, dass nur durch die NATO der Kosovo-Krieg beendet werden konnte, aber leider investiere der Westen auf dem Balkan bis heute mehr in seine militärische Präsenz als in Ökonomie und Infrastruktur.

Der Gewerkschafter reflektiert die dramatische Lage vieler, die im Krieg groß wurden und keinen Platz im Leben finden. Viele Montenegriner sind acht oder zehn Jahre nach ihrer Ausbildung noch immer arbeitslos. Frust gebiert Gewalt, vor allem in einem Land wie Montenegro, wo fast jeder Haushalt ein Gewehr besitzt.

"Der lange Weg gen Westen lässt sich nicht im superschnellen Ferrari des Kriegsgewinnlers zurücklegen", sagt Popovic, "und schon gar nicht als Land mit Dumpinglöhnen, denn dann stehen uns neue soziale Erdbeben bevor. Während des Krieges sind viele aus reiner Not nach Dubrovnik gepilgert, um die Stadt zu plündern. Was alle Nationalisten eint und immer einen wird, ist die Überzeugung: Für alle reicht es nicht. Deshalb muss man es sich gegenseitig wegnehmen ..."

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