War die Treuhand das „größte Schlachthaus Europas“ oder der im Vergleich zu Polen oder Tschechien bessere Weg vom Staatssozialismus zum Kapitalismus? Warum brachte diese Anstalt des öffentlichen Rechts, zuständig für 15.000 Betriebe und vier Millionen Beschäftigte, also für die gesamte DDR-Wirtschaft, nur 34 Milliarden Euro ein? Weshalb mussten die Steuerzahler in Ost und West für einen Verlust von über 122 Milliarden aufkommen?
Diesen Fragen geht der Journalist, Filmemacher und Publizist Dirk Laabs in Der deutsche Goldrausch. Die wahre Geschichte der Treuhand nach. Freilich, es ist eine Geschichte und nicht die einzig wahre, zumal die Akten im Gegensatz zu denen der Stasi selbst für Wissenschaftler bis mindestens 2050 gesperrt sind. Das chronologisch gegliederte Buch fußt auf Presseerzeugnissen, auf Büchern von Involvierten und Wissenschaftlern, die auf der Grundlage anderer Quellen forschten, auf Interviews des Autors mit Insidern. So vergleicht der Historiker Philip Wright, der das Treiben der Treuhand in Ostdeutschland erlebte, es in verblüffender Weise mit der normannischen Eroberung Englands. Nach 1066 griff Herzog Wilhelm II. mit 600 Schiffen und 7.000 Soldaten die Insel an, ließ den eingesessenen Adel vertreiben oder ermorden, enteignen und setzte neue, ihm treu ergebene Ritter als Lehnsherren ein. Diese Eigentumsverhältnisse wurden in einem Buch mit dem großspurigen Titel Domesday Book – „Buch des Jüngsten Gerichts“ – fixiert. Bis dahin sollten die niedergeschriebenen Besitzrechte gelten; und immerhin tun sie das bis heute. Und vergleichbar, so Wright, gehört fast alles, was in der DDR Wert hatte, jetzt wenigen Westdeutschen.
Die DDR an der Angel
Gerade die Vielzahl von Zitaten aus der Zeit wirken erhellend, die Sprache bringt die Hybris an den Tag: Gefragt, ob es um die bedingungslose wirtschaftliche Kapitulation der DDR gehe, antwortete der bieder wirkende Lothar Späth, damals Präsidiumsmitglied der CDU: „Ich sage mal ganz brutal: ja.“ Und der Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder versteigt sich sogar zur Behauptung, dass 40 Jahre Sozialismus mehr Schaden als der Zweite Weltkrieg angerichtet hätten. Man müsse so schnell wie möglich alles loswerden und privatisieren. Aber nicht nur Entscheidungsträger enthüllen Brutales, Fragen wie die eines Welt-Journalisten waren nicht nur eine schockierende Ausnahme: „Gibt es im Osten auch eine geistige Inferiorität? Sind die ‚Hirne‘, die Denkwerkzeuge, beschädigt? Gibt es geistige Deformationen?“
Ursprünglich stammte die Idee der Treuhand von redlichen, vorausschauenden Bürgerrechtlern, von Matthias Artzt und Gerd W. Gebhardt, die „das Volkseigentum der DDR-Bürger vor der Invasionsarmee D-Mark retten“ wollten. Aber diese Absicht wurde ins Gegenteil verkehrt. Der vom späteren Bundespräsidenten Horst Köhler mit der Angelegenheit beauftragte Thilo Sarrazin meint, er sei kein Getriebener, sondern ein Treibender gewesen, „weil ich mit dem mir angeborenen Maß an Zynismus und Kälte plus Sachverstand plus intensiver Sachbeschäftigung ganz klar und ohne Wunschdenken gesagt habe, wie es weitergehen würde. … Zuerst einmal bekommen wir die DDR an die Angel und schaffen vollendete Tatsachen in Richtung deutsche Einheit. Ich habe also alles getan, um diesen Prozess zu fördern. Als das dann erledigt war, die Treuhand existierte und unsere Überlegungen aufgegangen waren, habe ich gesagt: Jetzt wickeln wir das ganze Zeug möglichst schnell ab.“
Zum Vergleich sei Willy Brandt zitiert: „Aus dem Krieg und der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands und Berlins. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Nichts, aber auch gar nichts von diesem Geist findet man in den Ansichten des SPD-Mitgliedes Thilo Sarrazin.
„Alles oder nichts"
Walter Romberg, DDR-Finanzminister in der von Lothar de Maizière geleiteten Regierung und ebenfalls SPD-Mitglied, charakterisiert die erlebte Strategie so: „Alles oder nichts. Wir geben euch kein Geld, wenn ihr uns nicht die Souveränität über die Währung abtretet und unser Wirtschaftskonzept übernehmt.“
Im Jahre 2005 stellte ein Forschungsteam zur geringen Anzahl von Ostdeutschen in Führungspositionen beim Vereinigungsprozess fest: „Für einen derart radikalen Austausch einheimischer Eliten findet sich so schnell keine Parallele – am ehesten noch, horribile dictu, unter Kolonialregierungen und Besatzungsverwaltungen.“
Freilich, ermöglicht wurde dieser Raubzug durch die Stagnation und die Reformverweigerung der Honecker-Administration in den Achtzigern und von der Mehrheit der DDR-Bürger, die 1990 die Konservativen wählten und Helmut Kohl beispielsweise frenetisch jubelnd am Leipziger Opernplatz begrüßten, Transparente hochhaltend mit Sprüchen wie „Helmut Kohl, unsere Alternative zu 57 Jahren Barbarei“.
Günter Lorenz, in den neunziger Jahren Generalbevollmächtigter der IG Metall im hochbrisanten Industriestandort Halle, sieht die eigentliche Funktion der Treuhand in der „Enteignung der Ostdeutschen von ihrer Wirtschaft, vom Volkseigentum, und das zugunsten der Industrie im Westen, denn das ist das Ergebnis, dass sich die Industrie im Westen alles, was an Besitz im Osten zu verteilen war, unter den Nagel gerissen hat. Letzten Endes auch auf Kosten der Steuerzahler in Ost und West.“
Hoffnung auf Zeitenwende
Nicht allein die argen Schandtaten in diesem Buch regen auf, obwohl in dieser Beziehung so ziemlich alles vorkommt, was ins Strafgesetzbuch gehört, sondern die kalt-zynische Strategie vieler Macher, die bis heute das Sagen haben. Die Geschichte der Treuhand kann als eine der ökonomischen Bereicherung und moralischen Zerstörung einflussreicher Teile des westdeutschen Establishments gedeutet werden.
Ohne Reue und Einsicht verteidigt Thilo Sarrazin im Buch wie bei dessen Premiere vor geladenen Gästen die von ihm entwickelte Strategie: Natürlich brauchten die Treuhandchefs einen Persilschein, damit sie nicht strafrechtlich belangt werden konnten, es wäre – so Sarrazin, behaglich und anmaßend im Ledersessel sitzend – eben eine Notschlachtung gewesen. Ohne Empathie erläutert er, wenn Schweine gekeult werden müssen, muss es schnell gehen. Der Schock der Betäubung ist zu nutzen.
Dirk Laabs könnte in seinem enthüllenden Buch durchaus aus dem Vorwort zitieren, das Karl Kraus im Jahre 1922 zu seinen Dokumentarstück über den Ersten Weltkrieg, Die letzten Tage der Menschheit, beigab: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Läuteten die Macher dieser staatlichen und wirtschaftlichen Einigung etwa die letzten Tage der Demokratie ein?
Die Wege der Vereinigung Berlins, Deutschlands wie Europas führten zu Widersprüchen, deren Lösungen noch nicht abzusehen sind und deren Verschärfung gefährlich werden könnte. Folgerichtig bemerkt Laabs, dass bei der deutschen Vereinigung ausprobiert wurde, was bei der Finanzkrise seit 2008 europaweit angewendet wird: „die Sozialisierung der Verluste; die Ausschaltung des Parlaments, eine Exekutive, die nicht erklären kann oder will, warum sie wirtschaftspolitisch wie handelt“. So bekommt das deutsche Räuberdrama internationale Dimensionen.
Die Initiatoren der ursprünglichen Treuhand, die das Volkseigentum vor dem Goldrausch schützen wollten, glauben – das ist zugleich das Fazit des Buches –, „dass die deutsche Gesellschaft heute genauso unfähig zur Selbstkritik ist wie die DDR in ihren letzten Jahren“. Sie hoffen auf eine erneute Zeitenwende, in der „ihre Idee von einer Gesellschaft, die sich intensiver in das Wirtschaftsleben einmischt, bald wieder gefragt sein könnte“.
Der deutsche Goldrausch. Die wahre Geschichte der Treuhand Dirk Laabs Pantheon, 384 S., 16,99
Von Achim Engelberg erschien zuletzt die Familiensaga Die Bismarcks (Siedler, zusammen mit Ernst Engelberg)
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