Desillusionskunst

Familienroman Mit "In Zeiten des abnehmenden Lichts" hat Eugen Ruge den deutschen Buchpreis gewonnen. Zu Recht meint unser Rezensent

Nicht jeder Gesellschaftsroman ist zugleich der Roman einer Familie, aber jeder Roman einer Familie tendiert zu einem der Gesellschaft, in dem er in persönlichen Schicksalen große Geschichte erzählt. So ist es bei Eugen Ruge, der mit In Zeiten des abnehmenden Lichts sein erstes episches Werk vorlegt.

Es beginnt als Welttheater: Die vor Hitler bis nach Mexiko geflohenen Großeltern Wilhelm und Charlotte kommen 1952 voller Hoffnung in die DDR, ebenso einige Jahre später Kurt, einer ihrer Söhne, der aber im Exil ins Mühlwerk der sowjetischen Zwangsarbeitslager geriet, ein anderer starb sogar im berüchtigten Workuta. In der Enkelgeneration ist aber die Hoffnung erloschen – so geht Alexander in den Westen. In zwanzig Kapiteln, die eine Zeitspanne von 49 Jahren umfassen, schildert Ruge dieses Erlöschen. Geschichte geschickt verdichtend, rankt er die Erzählung um den 90. Geburtstag des Patriarchen am 1. Oktober 1989, also ganz am Ende der DDR. In Alltagsgeschichten behandelt das Buch strittige Fragen wie das Verhältnis von Realität und Utopie in einem extremen Jahrhundert.

Postdramatisch

Vieles stimmt dabei mit der Familiengeschichte des Autors überein, etliches ist künstlerisch transformiert. In wenigen Monaten, wenn die Autobiografie von Wolfgang Ruge neu unter dem Titel Gelobtes Land – Meine Jahre in Stalins Sowjetunion erscheinen wird, kann diese vergleichend gelesen werden. In gewisser Weise setzt der Roman des Sohnes, der vorrangig nach 1956 spielt, die in diesem Jahr endende Autobiografie des Vaters fort.

Es war ein weiter Weg für Eugen Ruge, der 1954 in Sosswa (Ural), im Verbannungsort seiner Eltern, geboren wurde und, nachdem die Familie ausreisen durfte, in der DDR aufwuchs. Er studierte Mathematik und arbeitete im Zentralinstitut für Physik der Erde, bis er sich über die Mitarbeit an DEFA-Dokumentarfilmen der Kunst näherte. Die enge Welt der DDR verließ der Sohn und Enkel von Kommunisten, indem er 1988 von einer genehmigten Reise in den Westen nicht mehr zurückkehrte. Fast zwei Jahrzehnte arbeitete er vorrangig als Dramatiker und Hörspielautor, dann erhielt er überraschend im Jahr 2009 den Alfred-Döblin-Preis für die Anfangskapitel des nun vorgelegten Romans. Der Stifter, kein geringerer als Günter Grass, bat ihn bei der diesjährgen Verleihung in der Akademie der Künste, über sein Verhältnis zu Alfred Döblin zu sprechen. Dabei enthüllte Eugen Ruge seinen Schreibprozess. Schon als Naturwissenschaftler verfasste er heimlich Prosa, über die er heute schmunzelt, die aber für die siebziger und achtziger Jahre nicht untypisch war: Sie befasste sich damit, „sich selbst als literarische Konstruktion zu entlarven“.

So unbeholfen dieses verborgene Werk auch wäre, enthalte es eine Frage, die seit mehr als einem Jahrhundert die Literatur beschäftige: ob „die Wirklichkeit in der Kunst, respektive in der Sprache überhaupt abbildbar sei“. Obwohl er sie damals wie heute mit Nein beantwortet, versuche er sich immer an diesem Vorhaben, fast zwanzig Jahre als Dramatiker im Zeitalter des Regietheaters, das keine Autoren mehr braucht und sich als „postdramatisch“ versteht. Vor einigen Jahren entschloss er sich nun, „die Geschichte einer (nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig wäre zu sagen: meiner) Familie“ zu erzählen. Erzählendes Bewahren wird für ihn zum menschlichen Kontinuum.

Bereits als Theaterautor hatte er sich seinem Familienstoff im Schauspiel Babelsberger Elegie genähert. Schon dort wird am Beispiel eines Funktionärsgeburtstages und seiner spießigen Rituale der Untergang der Nomenklatura dargestellt. Im ­Roman übernimmt er diese Szenerie und beschreibt ihn in sechs über das Buch verteilten Kapiteln für den 1. Oktober 1989. Stets aus der Perspektive eines anderen Teilnehmers erzählt, bekommt der schwere Stoff eine komische Leichtigkeit. So ist der Urenkel dem Sozialismus entfremdet wie dessen russische Großmutter aller sozialistischer Brüderlichkeitsrethorik zum Trotz stets auf Distanz geblieben ist.

Menschlich anschaulich

In Zeiten des abnehmenden Lichts könnte für den Untergang des real existierenden Sozialismus ähnlich wirken wie Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Gattopardo für den Niedergang der Adelsherrschaft. Kompositorisch ist Ruge zugleich traditionell und originell, eigenständig setzt er das multiperspektivische Erzählen des zwanzigsten Jahrhunderts fort, ohne eine historisch gewordene Avantgarde zu imitieren. Sprachlich ist das Werk klar und knapp geschrieben, zugänglich für einen weiten Leserkreis heute und wahrscheinlich auch morgen. Ich fand nur einen kleinen Missgriff: Kein Jugendlicher bedankte sich am 1. Oktober 1989 für ein Geschenk mit „Cool“, das blieb einer späteren Zeit vorbehalten. Sie wird vor allem in den eindrücklichen Passagen aus Mexiko um die Jahrtausendwende festgehalten, in denen sich Alexander (der Ruge von den Figuren am nächsten kommt) auf den Spuren der toten Großelten bewegt. Im Roman schließt sich so ein Kreis, der sich im Leben nicht schließt: von der Welt seiner Vorfahren ist so gut wie nichts geblieben.

In den letzten Jahren erhielten Erzählwerke Aufmerksamkeit, die eindrücklich die Schrecken der Stalinzeit mit dem Großen Terror und dem Gulag beschreiben oder das Nachleben der osteuropäischen Despotien im Namen des Kommunismus im Hier und Heute erzählen wie Oksana Sabuschkos Museum der vergessenen Geheimnisse. Oft verbinden diese Romane, wie etwa Sofi Oksanens Fegefeuer, die Ängste der Stalinzeit mit einer wüsten Gegenwart. In Zeiten des abnehmenden Lichtes schlägt einen anderen Ton an. Weil selten in einem Werk die Epoche des langsamen Verlöschens des osteuropäischen Staatssozialismus so poetisch-schlicht, so kompakt, so menschlich anschaulich beschrieben worden ist, leuchtet Eugen Ruges Roman als ein Höhepunkt dieser europäischen Strömung wie ein erhellendes Licht auf dunkle Zeiten.

In Zeiten des abnehmenden Lichts, Roman einer FamilieEugen Ruge Rowohlt 2011, 432 S., 19,95

Von Achim Engelberg erschien zuletzt die Familiensaga Die Bismarcks (Siedler Verlag, zusammen mit Ernst Engelberg)

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