Wer heute durch die Straßen Reykjaviks flaniert, findet keine Bettler oder andere Anzeichen großer Armut; und doch ist es erst fünf Jahre her, seitdem Island in die schwerste Krise seit der Staatsgründung schlitterte. Und als würde sie in der Natur nachwirken: Der Himmel ist oft verhangen. Bleiern schwer und endgültig geschlossen erscheint er, als ich das Café Paris betrete mit seinen runden Holztischen und Stühlen. Es könnte tatsächlich so in der Seine-Metropole aussehen. Sogleich tritt eine Frau an meinen Tisch, meine Verabredung: Auður Jónsdóttir, eine der erfolgreichsten Autorinnen des Landes.
„Hier waren die Proteste.“ Jónsdóttir zeigt nach draußen zum Austurvöllur, dem zentralen Platz, an dem das Parlamentsgebäude und der Dom stehen. Dabei kam es zum zweiten Tränengaseinsatz in der Geschichte Islands. Der erste erfolgte 1949 beim Protest gegen die NATO. Dass man kaum Bettler sieht, liegt am skandinavisch geprägten Sozialsystem, an der Rolle, die der Familienzusammenhalt hier immer noch spielt, und es ist schier unmöglich, dass es an die raue Atlantikinsel Armutsflüchtlinge spült. Man beschützt und bevormundet zugleich die Absturzbedrohten.
Allgegenwärtig ist in den Buchläden dagegen der Großvater von Audur Jónsdóttir, der einzige Nobelpreisträger der Insel: Halldór Laxness (1902–1998). Sie schrieb ein Buch über ihn, spiegeln sich doch in seinem Leben die Brüche des 20. Jahrhunderts. Über dreißig Jahre verbrachte Laxness im Ausland. Seine frühen Romane verfasste er auf Sizilien, er erlebte Hollywood und die Weltwirtschaftskrise in den USA, den Schauprozess gegen Bucharin in Moskau, er besuchte Brecht in Ostberlin und Mao in Peking; kurzum: ein Weltreisender, der ein vielgestaltiges Werk schuf. Die Insel wurde für ihn darin zu einer Miniaturausgabe der Welt. Welches seiner Bücher hält Audur für das aktuellste? „Sicherlich ist es der Roman Sein eigener Herr. Er gibt auch unsere Situation wieder, zum einen wollen wir unabhängig sein, aber dann wieder fühlen wir uns verlassen.“
Der Roman erzählt, wie ein Knecht nach achtzehn Jahren aufbricht, um auf seinem eigenen Hof seines Glückes Schmied zu werden. Er scheitert in einer Welt, in der der Austausch mit anderen notwendig ist. Wie bei Mutter Courage lernt hier die Hauptgestalt nichts, aber der Leser soll Schlussfolgerungen ziehen.
Die meisten, mit denen ich spreche, wollen eine Annäherung an die Europäische Union – aber sie sind nicht die Mehrheit der rund 300 000 Einwohner. Die breite Skepsis erklärt sich Audur Jónsdóttir mit der insularen Abschottung; die Regionalnachrichten überlagern die internationalen, vor allem aber die verstörenden Nachrichten aus Griechenland und Spanien. Audur selbst lebte jahrelang in Barcelona, wo zum Teil ihr auch auf Deutsch vorliegender Roman Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt spielt, sie hat noch Freunde dort, weiß von sozialen Abstürzen, die es so in Reykjavik nicht gibt.
Es kommt Leben ins Café Paris: Das raue Nieselwetter endet ganz plötzlich, die Sonne glitzert auf nassem Gras. Obwohl es so kalt ist, dass in Berlin oder Paris die Leute nur bei energiefressenden Heizpilzen draußen sitzen würden, beginnt eine Bewegung ins Freie. Viele setzen sich an eilig aufgestellte Tische, aus den Seitenstraßen und den angrenzenden Häusern kommen Menschen. Im Nu sind alle Plätze belegt. Audur sieht Einar Kárason, den renommierten Schriftsteller der Vulkaninsel. Schnell bin ich vorgestellt, schnell im Gespräch.
Einar – man ist in Island schnell beim Du – sieht auch in der kolonialen Erfahrung der Isländer einen Grund, warum man sich nur schwer binden will. Schließlich war das Land jahrhundertelang von europäischen Mächten beherrscht, ehe die vollständige Unabhängigkeit 1944 im Schatten des Zweiten Weltkrieges erfolgte. Anschließend wurde Island stark durch die USA geprägt. Über beide entscheidenden Phasen der isländischen Geschichte erzählt der 1955 geborene Autor in seinen Romanen. „Die Grenzlandsituation, die die USA prägte, ist uns nah. Die Isländer sind anders als die Grönländer keine Ureinwohner, sondern Europäer, die hierherkamen, weil sie von keinem König regiert werden wollten.“
Die Bedeutung der Sagas
Spätenstens hier muss man fragen: Warum aber spielt die Literatur auf dieser kleinen Insel eine so große Rolle? Einar begründet es wiederum mit Literatur – mit seinem unlängst erschienenen Buch, dem dritten Teil seiner auch hier verlegten Mittelalter-Trilogie. „Ich schrieb es in Deutschland, in Bamberg mit seiner mittelalterlichen Altstadt. So etwas gibt es hier nicht. Wir haben keine Burgen und Dome und Altstädte, die hunderte Jahre alt sind. Wir haben die Sagas. Und diese sind wirklich erstaunlich. Im Gegensatz zu anderer alter Literatur wie dem Beowulf gibt es da oft keine klare Einteilung in Gut und Böse, sondern ambivalente Charaktere. Deshalb spielen sie auch für junge Leute eine Rolle.“
Freilich, bekannt geworden ist Einar Kárason durch den ersten Teil einer Familiensaga, Die Teufelsinsel, der auch erfolgreich verfilmt wurde. Deren Protagonisten ist der Rock ’n’ Roll näher als die Grettir-Saga.
Fragt man seinen Übersetzer, den deutsch-isländischen Schriftsteller Kristof Magnusson, dann machte Einar Kárason Reykjavik mit der Teufelsinsel zu einem Ort der Weltliteratur. Kein bäuerliches Leben wird mehr erzählt, sondern städtisches. Und wie jung das noch ist, merkt man, wenn man durch Reykjavik flaniert. In der Laugavegur-Straße wechseln Boutiquen und Geschäfte, Coffeeshops und Restaurants, doch schon in den Nebenstraßen findet man häufig langweilige Mehrfamilienhäuser und ländliche Wellblechhütten. Manche neuen Gebäude wie das Konzerthaus Harpa, das je nach Witterung seine Farben wechselt, wirken wie großstädtische Einsprengsel in eine Provinzstadt.
Wie sieht Kristof Magnusson, der regelmäßig die Insel besucht und auch eine Gebrauchsanweisung für Island schrieb, den Umbruch? „Vor der Krise betrachteten viele die großen, teuren Vans mit Neid. Man wollte auch ein so geräumiges Auto. Nach dem Debakel sah man deren Besitzer eher mitleidig an. „Der sitzt jetzt bestimmt auf einem Schuldenberg, den er abbezahlen muss“ oder Ähnliches hört man. Die Fassaden sind weggebrochen, das macht den Blick frei.“ Und er rät mir zu einem Besuch im „Kraftwerk der Ideen“.
So stehe ich also vor einem vermeintlichen Elektrizitätswerk, nur das Schild am Eingang Toppstödin lässt Zweifel aufkommen. Als ich das Gebäude betrete, sieht es wie ein Club aus. Beides ist nicht falsch, denn bis 1980 war hier das Kraftwerk der Stadt, verwaist und ungenutzt blieb es bis zur Krise 2008, seitdem gibt es durchaus auch Konzerte mit DJs und Lichtinstallationen, aber vorrangig arbeiten hier junge Unternehmer, kleine Firmen und Künstler an sozial und ökologisch sinnvollen Projekten.
Einer der Köpfe des Hauses ist Andri Snaer Magnason. Mit Traumland. Was bleibt, wenn alles verkauft ist? schrieb er vor sieben Jahren das erfolgreichste isländische Sachbuch. Seit 2011 gibt es auch eine deutsche Fassung, bis zum heutigen Tage findet man es in den Buchläden von Reykjavik. In Traumland kritisiert Magnason den zunehmenden Einfluss globaler Player vor allem aus der Aluminiumindustrie, die, als Industrialisierungshelfer gepriesen, stets Gewinne für wenige erzielen, aber langfristige Verluste für Gesellschaft und Umwelt verursachen.
Seine Kritik traf einen Nerv, aber erst die Krise ermöglicht praktische Versuche, es besser zu machen. In Kooperation mit anderen startete man, bot Räume billig für Leute an, die neue Ideen entwickeln wollen. Für 50 oder 70 Euro im Monat gab es einen Internetanschluss und Kaffee, so viel man wollte.
„Junge Unternehmer verlieren häufig ihr Talent an die Bank“, meint Andri. „Viele findige Techniker werden nicht kreativ, weil sie einen gut bezahlten Job haben. Kreativität ist schmerzhaft, aber durch die Krise rangen sich viele dazu durch.“
Im Gegensatz zu anderen Krisenländern wie etwa das in der EU hochgelobte Lettland, in dem es zu einer Massenemigration kam, suchten in Island nur wenige das Glück im Ausland. Immerhin schnitt der Inselstaat selbst in der Krise in Bezug auf Lebenserwartung, Alphabetisierung und eine relative gesellschaftliche Homogenität weltweit gut ab. Und das in einer Gegend, wo jahrhundertelang Armut und Hunger die Menschen niederdrückten.
Aber nicht nur eine ausreichende Grundversorgung ermöglichte Neues, sondern es lastet auch nicht der Fluch von Bodenschätzen, die neue Wege oft versperren, auf der Insel.
Ohne Schwerindustrie
„Weißt du, das Öl in Norwegen verhindert Kreativität. Es gibt dort keinen Druck, es ist auch schwierig, ein billiges Haus zu finden. Hier brachte die Krise Neues hervor, weil die Leute gezwungen waren, umzudenken. Man setzte sich wie hier in Toppstödin zusammen, suchte einen Weg. Viele fanden einen, was man auch an der niedrigen Arbeitslosenrate bei geringer Emigration sieht.“
Es scheint fast natürlich, dass sich auch Andri im Gespräch auf Halldór Laxness bezieht: Laxness geißelte eine Orientierung auf eine nachholende Industrialisierung bereits 1971 in seinem Essay Krieg gegen das Land. Andri druckt in seinem Buch ganze Passagen davon ab, eine sogar blau hervorgehoben: „Es wäre schön, wenn uns jemand sagen könnte, in welcher Ecke der Welt es die Schwerindustrie-Arbeiter gibt, die in besseren wirtschaftlichen Verhältnissen leben als die Menschen in Akureyri ohne jede Schwerindustrie.“
Die Stadt Akureyri liegt im Norden der Insel, damals war es eine Stadt der Handwerker und Geschäftsleute, heute wachsen der Tourismus und die Hightech-Firmen. Immer noch lebt man dort weit besser als ein Schwerindustrie-Arbeiter in China, der neuen Werkbank der Welt.
Im Buch wie im Gespräch argumentiert Andri immer wieder anschaulich. Überhaupt keine großen energiefressenden, umweltschädigenden Aluminiumwerke solle man erlauben. „Man kann nicht nur eine Pyramide bauen. Entweder man baut keine oder viele.“ Aluminiumwerke wären – so Andri – fast überflüssig, wenn es ein vernünftiges Recycling gäbe. Die Getränkedosen werden achtlos weggeworfen, weil die Neuproduktion den großen Gewinn bringt. Andri ist kein Kritiker der Marktwirtschaft, sondern einer der jetzigen. Gern zitiert er liberale Denker wie Friedrich August von Hayek, der immer wieder insistierte, dass entscheidende Ideen nicht mit dem Staat, sondern neben diesem und der Politik entstehen. Nicht als linke Kommune sei Toppstödin gegründet, man will hier Ideen für eine liberale Welt entwickeln.
So wie er argumentiere, stichele ich, klinge das wie vor einer Epoche Dissidenten im Ostblock, die in der Diktion der vorherrschenden Denkweisen das System kritisierten. Andri lacht, stimmt zu und entgegnet, in der Sprache der traditionellen Linken erreiche man nun einmal keine Unternehmer, aber wenn man in einer ihnen vertrauten Sprache und mit ungewöhnlichen Metaphern spricht, dann hörten sie zu.
Und wie steht es um den Künstler in Andri Snaer Magnason, der schon mal seine Gedichte im Supermarkt verkaufen ließ? Er – Vater von vier Kindern – hat gerade ein Märchen für große und kleine Leser abgeschlossen. Über einen König, der mehr Zeit haben möchte. Nun muss aber sein Erfinder zum nächsten Termin. Und radelt davon. Ich besuche noch einige Büros dieser Dissidenten des Kapitalismus, die ihn grün und kleinteilig-selbstorganisierend erneuern wollen.
Achim Engelberg ist Historiker und Filmemacher. Promoviert hat er über John Berger
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