Die Reise begann ungewöhnlich, weil im Flugzeug, von durchtrainierten Polizisten in Overalls eskortiert, ein ohne Papiere aufgegriffener Mann abgeschoben wird. Der Dunkelhaarige könnte aus Algerien oder Marokko stammen und wird nun wahrscheinlich dorthin gebracht, wo er die EU-Außengrenze überschritt. Als wir die dichte Wolkendecke durchstoßen haben, gibt man dem Flüchtling noch einmal etwas zu essen und zu trinken. Der Vorgang scheint nicht unüblich zu sein.
Ich lese inzwischen Jean-Claude Izzo, den heute international bekanntesten Stadtchronisten Marseilles. Sein Vater kam aus Italien, seine Mutter aus Spanien. Er selbst war Franzose, genauer: Marseiller. „Ganz ohne Romantik war – und bleibt – Marseille der Ort, an dem sich die Exilierten der Welt begegnen. In den meisten Restaurants isst man folglich einfach und für wenig Geld. Die Gerichte sind mit einem treuen Festhalten am Ursprung zubereitet. Die Küche erneuert sich nicht, sie mischt sich nicht, sie bleibt bestehen. Essen verbindet mit der Heimat,“ schreibt er. Später werde ich den Schriftsteller, der im Jahr 2000 mit nur 54 Jahren gestorben ist, in einem Punkt aktualisieren müssen: Inzwischen sind die Touristenrestaurants rund um den alten Hafen unverschämt teuer.
Über der Provence reißt die Wolkendecke auf, und ich erkenne Avignon, die Stadt mit jener legendären Brücke, die halb in die Rhone ragt. Kurz danach landen wir in Marseille. Schon beim ersten Spaziergang erkenne ich, dass die Rede vom „Schmelztiegel“ hier kein Klischee ist: Europäer, Afrikaner, Asiaten. Nun verstehe ich, was der in Aix-en-Provence lehrende Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Götze unlängst gestand: Für einen Film über Albert Camus bekam er keine Drehgenehmigung für Algier – die nötigen Bilder nordafrikanischen Lebens drehte er deshalb in Marseille, und niemandem fiel es auf.
In der Grenzzone
Es ist ein Allgemeinplatz, dass die Grenzen Europas im Osten und Südosten immer wieder neu definiert werden. Gehört die Türkei dazu? Und Russland? Und wenn ja, bis wohin? Bis zum Ural oder bis Wladiwostok? In Frankreich scheint die Frage, wo Europa endet, obsolet. Wer aber Marseille besucht, gängige Touristenpfade verlässt und durch das Straßen- und Gassengewirr zickzackt, dem stellt sie sich durchaus. Wie historische Zäsuren oft, wenn man sie näher betrachtet, zeitlich dann doch nicht so scharf trennen, kann man dieses Phänomen hier an diesem Tor zum Orient oder zu Europa oder zu Afrika räumlich spüren. Marseille ist ein Transitraum, eine Grenzzone, in der man die Widersprüche unserer Welt stärker wahrnehmen kann als an vielen Orten, die im Zentrum liegen – obwohl auch dort die Übergangszonen wachsen.
Immer wieder erinnert Jean-Claude Izzo daran, dass „die europäische Kultur an den Ufern des Mittelmeers und in Vorderasien entstanden ist. Man muss es noch einmal wiederholen: Europa war eine phönizische Prinzessin, die von Zeus entführt wurde!“ Mit diesem mediterranen Bewusstsein schrieb er seine Bücher, allen voran in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Die Marseille-Trilogie. Drei spannende Krimis, dramaturgisch und sprachlich überdurchschnittlich gekonnt, eine veritable Einführung in diese Metropole. Für Stadtspaziergänge ist nun auch noch ein Bändchen mit kürzeren Texten und Romanauszügen, einem Stadtplan und stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Fotos von Erwin Gantert erschienen.
Die älteste Stadt Frankreichs
Wahrlich, Marseille ist eine Stadt für Fotografen. Oder für Filmemacher – nicht wenige Spielfilme spielen hier. Überall sieht man Bilder, die man metaphorisch verstehen kann: Ein Bettler mit Hund etwa schläft friedlich im Eingang eines Waffenladens. Wer die Rue Saint Ferreol mit den teuren Läden in den stattlichen Häusern sieht, ahnt kaum, dass schon in der Nebenstraße die Fassaden bröckeln und Arme sich in Billigläden umtun. Der Geruch frischer Farbe mischt sich mit dem dumpfen Gestank jahrzehntelanger Verschmutzung. Was sonst stadtviertelweit entfernt liegt, findet sich hier eckennah.
Wie eine Schlange legt sich Marseille eine neue Haut zu. Nächstes Jahr soll es neben dem slowakischen Kosice Kulturhauptstadt Europas werden. Überall wird gebaut und saniert, gegraben und montiert. Einige Häuser glänzen schon, Kräne schwenken hinter dem alten Hafen, wo ein ultramodernes Museum zur Geschichte der Mittelmeer-Zivilisationen entsteht.
Dennoch wird wohl so schnell Jean-Claude Izzos Meinung nicht historisch werden: „Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt dort nichts zu sehen … Hier muss man Partei ergreifen. Sich engagieren.“ Noch ist davon etwas zu spüren, selbst wenn die Zahl der Sightseeing-Busse ansteigen wird. Und es gibt wahrlich mehr zu erkunden als die ansehnliche, auf einem Kalkfelsen als Wahrzeichen über der Stadt thronende Wallfahrtskirche Notre Dame de la Garde.
Die Touristen bestimmen ohnehin nur rund um den alten Hafen das Bild der ältesten Stadt auf französischem Boden. Gegründet vor 2.600 Jahren von kleinasiatischen Griechen, die hierher flohen, bleibt sie bei allen Metamorphosen bis heute ein Ort der Vermischung von Einwanderern und Flüchtlingen. Alle, mit denen ich spreche, vom Concierge im Hotel bis zu Machern des Kulturhauptstadt-Programms, von Zufallsbekanntschaften in Bars bis zum Bootsführer, der uns zu den spektakulären Calanques schippert, sahen ethnische Konflikte nicht als gravierend an. Soziale allerdings. Pointiert lese ich bei Izzo: „Das war nicht die West Side Story – Latinos gegen Puertoricaner. Jede Gang hatte ihren Teil an Italienern, Spaniern, Portugiesen, Arabern, Afrikanern, Vietnamesen.“
Apropos Calanques. Das sind die Felsbuchten von Marseille, die man, wie es Fabio Montale, die Zentralgestalt aus Izzos Trilogie, tat, erwandern, aber auch von Marseille oder Cassis per Boot besuchen kann. Gerade sind sie zum Nationalpark ernannt worden. So hektisch und laut die Metropole auch ist, es gibt wenige Großstädte, die in solcher Nähe Vergleichbares bieten können.
Seeleute und Huren
Das Panier-Viertel ist zur Touristenmeile mutiert. Hier lebten die Underdogs aus Izzos Romanen, möglicherweise wurden sie nur per Zufall Verbrecher oder Polizisten. Es war „das Viertel der Seeleute und Huren. Das Krebsgeschwür der Stadt. Das große Bordell. Für die Nazis, die es nur zu gern zerstört hätten, ein Herd der Entartung des Abendlandes“. Und wer durch die sanierten Gassen geht, umgeben von Gruppen mit winkenden und dozierenden Reiseleitern, findet ab und zu alte Fotos im nostalgischen Stil, die aber bei genauerem Hinsehen eine Armut ohne Hoffnung wie eine der Empörung enthüllen.
Im Panier liegt auch die Alte Charité, die Izzo treffend als das Meisterwerk von Pierre Puget, dem großen Bildhauer des 17. Jahrhunderts, charakterisiert. Jahrhundertelang war sie Zeuge des Elends: von Pestkranken und Bedürftigen bis zu den von den Nazis vertriebenen Bewohnern der engen Gassen. Heute wird sie als Museum zum Zeugnis des Schönen. Alte und neue Meister wechseln einander ab.
Vereint ist das Disparate durch den metallenen Lärm des Verkehrs, den Geruch aus Benzin und Abfällen unter dem oftmals porzellanenen Glanz eines variationsreich blauen Himmels. Wahrlich, Marseille ist eine Stadt des Lichts. Immer wieder verschmelzen Himmel und Meer in verschiedenen betörenden Schattierungen, die man erst allmählich in ihrer Vielfalt erkennt. Izzo unterscheidet: „Graublau, Schwarzblau, Leuchtendblau, Tiefblau, Lavendelblau. Oder das Auberginenblau der Gewitternächte. Das Blaugrün bei hohem Seegang. Die kupfernen Blautöne des Sonnenuntergangs kurz vor dem Mistral. Oder das fast weiße Blassblau.“
Vom Meer kam stets das Böse
Das Meer allerdings sieht man im alten Hafen oder in der La Canebière, der berühmtesten Straße der Stadt, kaum oder nur in der Ferne. Gerade das Zentrum ist ihm abgewandt. Erst mit dem durch den Bau der zwei U-Bahnlinien übrig gebliebenen Sand schuf man einige Stadtstrände. Izzo erklärt, dass die Metropole eher zu den reicheren Gegenden der Provence schielt: „Für die Kinder aus bürgerlichen Familien war das Meer tabu. Der Hafen war gut für Geschäfte, aber das Meer war schmutzig. Von dort kam das Böse. Und die Pest. Sobald die warmen Tage kamen, zogen sie aufs Land. Nach Aix und Umgebung, in die Landhäuser. Das Meer überließ man den Armen.“
Jetzt nähert sich der Reichtum dem Meer. Am deutlichsten bemerkt man es in La Joliette am neuen Hafen, aber auch im alten werden etliche Schiffe nobler. Bei einem Pastis de Marseille, einem Anisschnaps, wie man ihn vielerorts am Mittelmeer findet, bei den Griechen als Ouzo, bei den Türken als Raki oder im Libanon als Arak, sitzen wir in einer Bar, als einige Männer aus einer Jacht steigen und sich am Nebentisch niederlassen. Es sind, wie sie von sich selber sagen, russische Businessmänner, die öfters hier seien. Sie schmeißen eine Runde, aber ob man mit ihnen ehrliche Geschäfte machen kann, bezweifle ich, wenn ich sie beobachte, ihre fitnessgestählten Körper mit Köpfen voller Freihandelsideologie, privatisierungssüchtig. Im Hotel lese ich noch ein Kapitel von Izzo. Er, der jahrzehntelang als Journalist arbeitete und erst mit 50 Jahren seinen ersten Roman publizierte, beschreibt einen Treffpunkt, an dem sich gewählte Entscheidungsträger, Unternehmer und Mafiosi treffen. Der Ort kommt mir bekannt vor, am anderen Morgen vergewissere ich mich: Die Bar heißt wie im Roman Bar de La Marine. Ein Zufall?
Glaubwürdig scheint, dass die Grenzen für Flüchtlinge undurchlässiger werden und die zwischen legalen und illegalen Geschäften verschwimmen. In Izzos Welt erkennen wir schärfer, wie „kleinkriminelle Vergehen groß herausgestellt werden“, aber „über die Rolle und den Einfluss von internationalen Verbrecherorganisationen in Politik und Wirtschaft“ oftmals geschwiegen wird. Eine Welt, in der direkte Verbindungen zwischen „weltweiter Verschuldung, illegalem Handel und Geldwäsche“ existieren. Dem fühlt man sich im hektischen Marseille näher als im noblen Avignon.
Die Marseille-Trilogie, Total Cheops, Chourmo, Solea Jean-Claude Izzo Aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Voullié, Unionsverlag 2012, 672 S., 14,95 €
Mein Marseille Jean-Claude Izzo Aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Voullié, Mit Fotografien von Edwin Gantert, Unionsverlag 2012, 96 Seiten, 7,90 €
Achim Engelberg veröffentlichte zuletzt zusammen mit Ernst Engelberg die Familiensaga Die Bismarcks
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