Sexueller Missbrauch: Reformschulbewegung gerät in Verdacht

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„Man muss wirklich miteinander leben; die Erwachsenen müssen nicht nur mit den Kindern spielen, arbeiten, wandern und alle die Interessen und kleinen und großen Freuden und Leiden des Kindes teilen, sondern letzteres auch, je nach seiner Reife, am eigenen Erleben und Schaffen teilnehmen lassen, sodass mehr oder weniger innige persönliche Beziehungen entstehen.“ (Paul Geheeb über die Odenwaldschule 1936)

Paul Geheeb (1870 – 1961) war der Begründer der Odenwaldschule, die jetzt wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern erneut in die Schlagzeilen geraten ist. Er gilt als der Vater der Koedukation, des gemeinsamen Erziehens von Jungen und Mädchen. Die Odenwaldschule und ihr Gründungsleiter Geheeb galten politisch als fortschrittlich. Er war gegen den 1. Weltkrieg, verteidigte die Weimarer Republik, lehnte das Kaisertum ab, wurde von den Nationalsozialisten vertrieben. In den 20er Jahren war er Mitbegründer der Vereinigung der Freien Schulen und Landerziehungsheime. Ziel war, pädagogischen Reformen mehr Gewicht zu verleihen.

Im Lichte der Enthüllungen um die hessische Odenwaldschule lesen sich Sätze, wie das Eingangszitat in völlig anderem Kontext. Paul Geheeb wurde bis heute keine Verfehlung unterstellt. Er meinte den Satz in den 30er Jahren wahrscheinlich rein erzieherisch, wobei er den Begriff Erziehung, der auf eine undemokratische Situation verweist, vermied. Er zog es vor, von einem Entwicklungsprozess der Kinder zu sprechen, den es zu fördern gelte. Geheeb wollte den Unterschied zwischen den Lehrern und den Schülern aufheben, damit Pädagogik nachhaltige Wirkung entfalte. Das klingt nach Demokratie, war bei Geheeb wahrscheinlich auch so gemeint. Kann auch anders interpretiert werden. Vielleicht müssen manche pädagogische Klassiker neu gelesen werden. Vielleicht könnte dann die Erziehungswissenschaft in eine Krise geraten.

Gemeinsamkeiten zu kirchlichen Einrichtungen sind offenbar, wenn auch teilweise unterschiedliche Motivationen vorliegen. Die sexuellen Vergehen an Kindern in pädagogischen Institutionen geschahen bisher, soweit bekannt, in Internaten, in denen es zum pädagogischen Konzept gehört, die Kinder durchgehend zu betreuen, auch in ihrer Freizeit. Dass da pädophile Menschen angezogen werden, scheint offenkundig. Die ständige Nähe zu Kindern, getarnt als pädagogisches Verhältnis, eröffnet ihnen die Möglichkeit, ihren Trieb auszuleben.

Und das tat Leiter der Odenwaldschule, Gerold Becker, in erheblichem Ausmaß. Am 17.11.99 stand in der Frankfurter Rundschau: Lehrer sind hier gleichzeitig „Familienhäupter" , die sich in den idyllischen Wohnhäusern um sechs bis zwölf Minderjährige kümmern. Die Odenwaldschule, so steht es in der Heimordnung, möchte „eine freie Gemeinschaft" sein, „in der die verschiedenen Generationen unbefangen miteinander umgehen und voneinander lernen können". In der Rückschau wird deutlich, dass der Theologe Gerold Becker, der die Schule von 1972 bis 1985 leitete, die Idee dieses Satzes mehr als ein Mal pervertiert hat.“

Und Becker, so ist jetzt in der Frankfurter Rundschau zu lesen, ist der Lebensgefährte von Hartmut von Hentig (84), der Reformpädagoge des ausgehenden 20. Jahrhunderts schlechthin. Ausgezeichnet mit unzähligen Preisen. Sein Einfluss auf die Theorie der Schule kann nicht überschätzt werden. Er gründete die Bielefelder Laborschule, die weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt wurde. Die Opfer der Odenwaldschule werfen ihm zumindest Mitwisserschaft vor. Er selbst nennt gegenüber der Frankfurter Rundschau diesen Vorwurf „grotesk“. Sehr glaubwürdig klingt das nicht. Sollten sich die Vorwürfe der Opfer des Missbrauchs bestätigen, würde nicht nur ein Denkmal vom Sockel gestoßen.

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Geschrieben von

Achtermann

Ich lass' mich belehren. Jedoch: Oft wehre ich mich dagegen.

Achtermann

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