Sind wir alle linksliberal?

Standortbestimmung Die parlamentarische Rechte scheint dem Bundestag abhanden gekommen. Fast alle sind nur noch eins: linksliberal

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Der Seeheimer Kreis, eine Arbeitsgemeinschaft aus der SPD-Bundestagsfraktion, wird gerne als rechts bezeichnet, zumindest als rechter Flügel der Sozialdemokratie. Das sehen dessen Mitglieder anders. Wenn sie von sich sprechen, nennen sie sich modern und weltoffen auf der Höhe der Zeit stehend. Sie wollen Vertrautes hinterfragen, um "liebgewonnene, lange eingeübte Ansätze überdenken zu müssen." Das klingt nach Fortschritt, nach Kritik am Konservativen, nach Reibung am Traditionsdenken.

Bei den Grünen und auch bei der Linkspartei wurden in der Vergangenheit die mutmaßlich rechts und links Stehenden gerne in Realos und Fundamentalisten unterschieden, wobei erstere für eine pragmatische Politik, die lösungsorientiert sei, stehen, letztere hingegen für keinerlei Kompromissbereitschaft zu haben seien, da sie der "reinen Lehre" anhingen. Da bei den Grünen die Fundamentalisten sich verabschiedet haben und bei der Linkspartei nicht aufgetaucht sind, stellt man vermehrt die Begriffe Linke und Reformer gegenüber, um die Spannbreite der Parteien zu charakterisieren. Die noch auf dem linken Parteiflügel Verbliebenen, die weniger Orthodoxen, wurden mit der Begriffserneuerung in der Zwischenzeit weitestgehend vom Makel der Unbelehrbarkeit befreit. Sie haben sich hoffähig gemacht, sind in der bürgerlichen Breite nahezu akzeptiert, zumindest als Gesprächspartner.

Über die Christdemokraten meint man inzwischen, sie hätten unter ihrer Vorsitzenden Merkel einen Linksruck vollzogen. Aber nicht von rechts nach halbrechts, sondern die Mitte überschreitend hin zur anderen Seite des politischen Spektrums. Das sagte in einer repräsentativen Umfrage des Instituts Infratest Dimap im Dezember 2015 die Mehrheit der Bürger. Die christlichen Parteidemokraten seien von nun an links der Mitte zu verorten. Dort, wo sich nach Einschätzung der Befragten auch SPD, Grüne und die FDP tummelten. Allein die CSU wurde auf dieser politischen Bühne noch nicht gesichtet. Sie wurde als leicht rechts der Mitte stehend eingestuft, also fast links davon. Da die genannten Parteien bisher den allergrößten Teil des Wählerpotenzials abdeckten, liegt die Einschätzung nicht fern, dass die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sich inzwischen selbst als eher links stehend einstuft, zumindest wenn man die Geschichte der republikweiten Wahlen Revue passieren lässt.

Warum auch nicht! Dafür gibt es ja den Begriff linksliberal, der, historisch betrachtet, aus der Mitte des gutbürgerlichen Milieus stammt, das 1910 hinter der Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) stand. Es ist ein denkbar guter Begriff. Nahezu jeder, der sich heute öffentlich äußert, umgibt sein Denken mit einer liberalen Aura, denn liberal steht für Weltoffenheit, Freizügigkeit und Toleranz. Der Wortteil links verstärkt diese positive Selbstzuschreibung, da der Hauch einer Distanz, eine kritische Würdigung der eigenen Werte, mitschwingt. Sich als politisch Rechter zu bekennen, nein, das macht man schon länger nicht mehr, zumindest in den Kreisen, in denen man sich vom Bundestag repräsentiert sieht. Und das ist nach wie vor die große Mehrheit.

Bei den Bundestagsparteien wird die Rechtslastigkeit am ehesten noch der CSU in Verbindung gebracht. Die Partei konterte aber schon in den 90er Jahren sehr erfolgreich mit dem Slogan "Laptop und Lederhose", um zu zeigen, dass man das Denken der Adenauer-Ära hinter sich gelassen habe. Tradition verbindet sich mit Fortschritt. Man pflegt zwar das Heimatbewusstsein, verschließt sich jedoch nicht der Moderne und der Innovation. Und wer das Neue, wer Fortschritt will, zumindest wenn das Label funktioniert, ist eben nicht konservativ, nicht per se rechts.

Da augenscheinlich die große Mehrheit der Politiker und Bürger sich als linksliberal eingestellt wähnt, liegt nahe, dass die sich selbst als links Einschätzenden vermeintlich linksliberale Politikmacher loben, hinter ihnen stehen, sie verteidigen oder einfach gut schlafen können, wenn sie im Dämmerzustand wahrnehmen, dass sie im Prinzip von ihresgleichen regiert werden.

Jüngstes Zeugnis davon legt die seit dem Jahr 2000 das Einstein-Forum in Potsdam leitende Philosophie-Professorin Susan Meiman ab, die von "wir als Linke" sprechend in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau konstatiert, dass die multinationalen Konzerne die Kontrolle hätten und sich mit der Politik arrangierten. Ein durchaus nachvollziehbarer Standpunkt für eine Linke. Ein paar Sätze hinterher aber meint die geborene Amerikanerin: "Ich bin stolz, in Deutschland zu leben. Ich fand die Aussage von Kanzlerin Merkel gegenüber Trump großartig, mutig, in jeder Hinsicht richtig. (…) Ich finde auch die Entscheidung, Steinmeier zum Bundespräsidenten zu küren, absolut richtig. Als Symbol gegen das, was zurzeit in der Welt passiert. Merkel und Steinmeier haben das Richtige gemacht. Ich kann nur hoffen, dass Deutschland eine sehr starke Führungsrolle übernimmt. Denn aus Deutschland kommen derzeit die Vernunft und der Anstand."

Vermeintlich Linke unterstützen vermeintlich Linksliberale und machen PR für sie. Dabei klopfte sich der erwähnte Steinmeier, dem die Agenda 2010 zu verdanken ist, 2013 in einer Rede auf der Jahrestagung des Arbeitgeberverbandes (BDA) auf die rechte Schulter, indem er die sozialdemokratischen Deregulierungsmaßnahmen für die Lohnabhängigen lobte. Damit sei man den Arbeitgebern unter der Ägide von Rot-Grün mit mehr als 60 Milliarden an Vergünstigungen entgegengekommen, etwa durch die Senkung des Spitzen- und des Eingangssteuersatzes sowie der Senkung der Unternehmenssteuern. Ohne zuvor larmoyant festzustellen: "Und ich weiß, dass die meisten hier im Saal trotz der anstrengenden, gefährlichen, risikobehafteten Umsteuerungsarbeit, die wir damals zu machen hatten, ihre Zuneigung zur Sozialdemokratie immer noch unterkühlt handhaben." Man vermutet sie schon, die Tränen in seinen Augen, als der künftige Bundespräsident diesen Satz sagte. Es ist die Anerkennung, die fehlt. Die Anerkennung aus der großen Welt des Finanzadels. Dieses Begehren ist für heutige Linksliberale ein Muss.

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Geschrieben von

Achtermann

Ich lass' mich belehren. Jedoch: Oft wehre ich mich dagegen.

Achtermann

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