Festivaltagebuch, Tag 4: Rosa Pillen

Heute: Berlin aus der Perspektive vier Süchtiger, eine Adaption alten Stoffes und die Wiederentdeckung von Leinwandgesichtern im wirklichen Leben

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Ein gesundes Frühstück sei ja bekanntlich die wichtigste Mahlzeit am Tag – der Samstag startete daher mit einem kostenlosen Joroni-Filmbrunch in der Bar Luxemburg. Und für alle, die es wegen Katerstimmung nach der „Alleine tanzen“-Premierenparty in der Volksbühne und/oder der Kaptn Lass Bros Achtung Prty erst mittags aus dem Bett geschafft hatten, wurden auch warme Speisen nachgelegt. Obwohl es selbst in der Sonne sehr frisch war, saßen wir draußen am besten. Drinnen herrschte reges Treiben angesichts der vielen leckeren Sachen, ein Kampf um die letzten Reste Rührei brach aus und ich entschied, dass ich genug gegessen hatte und gestärkt für den ersten Kinobesuch war.

Im kleineren Saal des Babylon sah ich mir zuerst SUCHT an. Vier Schwerabhängige werden porträtiert: abhängig von Heroin, Kokain, Medikamenten. Kommentarlos klebt die Kamera buchstäblich an den vier Protagonisten und nichts bleibt verborgen. Vom Anschaffen gehen auf der Kurfürstenstraße, Besuch des Suchtzentrums, Treffen mit den Dealern und das Spritzen selbst. Zwischen den schockierenden und traurigen Bildern erzählen Andreas, Juri, Suse und Jan von ihrer Sucht, ihrem Alltag und ihren Hoffnungen. Der Film offenbart mir nichts, was ich nicht schon in der einen oder anderen Form gesehen hätte, aber er ist dadurch keinesfalls belanglos oder langweilig. Denn er zeigt speziell Berlin – die Parks, öffentliche Toiletten, U-Bahn-Stationen usw., wie wir sie kennen – aus der Perspektive der Süchtigen, und öffnet damit meinen Blick für wieder eine andere Perspektive.

Zu sehen ist SUCHT noch einmal am 24. April um 18.00 Uhr im Babylon 3.

Anschließend fuhr ich ins Filmtheater am Friedrichshain, wo so ein unglaublicher Ansturm auf den Spielfilm WOYZECK herrschte, dass ich Glück hatte die letzte Karte zu erwischen. Im Publikum saß auch ein großer Teil der Filmcrew sowie die Hauptdarsteller Tom Schilling, Nora von Waldstätten und Simon Kirsch. Wiederkehrende Bilder: die Nadel im Arm, zu viele rosa Pillen. Eine alte Geschichte neu erzählt: Woyzeck lebt mit Marie und ihrem gemeinsamen unehelichen Kind im Wedding. Er verlor sein finanzielles Standbein - ein deutsches Restaurant - an den Hauptmann. Bei diesem ist er nun angestellt und wird von ihm gemobbt und ausgebeutet. Er ist ein Außenseiter unter Außenseitern, und damit der letzte Abschaum. Nachts bereinigt er mit seinen Kollegen und einzigen Kumpanen die Schienen der U-Bahn. Um zusätzlich Geld zu verdienen, nimmt Woyzeck an Medikamentenstudien teil, durch die er unter Halluzinationen und Impotenz leidet. Er will schnell viel Geld verdienen, um mit Marie aus dem Drecksloch abhauen zu können. Getrieben und ruhelos hetzt Woyzeck von einem Job zum anderen, von einem Schein zum nächsten und vernachlässigt dabei zunehmend Marie. Diese erhält währenddessen eindeutige Angebote von dem gutaussehenden und reichen Tambourmajor ...

Der Versuch einer Adaption alten Stoffes, der gelingt. WOYZECK ist eine Low-Budget-Produktion, bei der die gesamte Crew ihr Herzblut reingesteckt und auf den Großteil ihrer Gage verzichtet hat. Entstanden ist ein unglaublich guter, spannender und bewegender Film mit großartigen Darstellern, der sich wirklich lohnt anzusehen. Zum Beispiel am 23. April um 19.15 Uhr in der Passage.

Bei der achtung berlin Festivalparty im Roadrunner`s Paradise entdeckte ich viele alte bekannte achtung berlin-Gesichter; ich traf Dominique, die bei achtung berlin vor zwei Jahren für die Kopiendisposition verantwortlich war, und sah Hajo Schäfer, unseren Festivalleiter, mit seiner Freundin ausgelassen tanzen. Held-Vodka, als achtung berlin-Unterstützer, wurde für einen Euro verkauft und floß reichlich. Die Band „Beton“ aus dem Spielfilm STAUB AUF UNSEREN HERZEN gab ein großartiges Konzert, und das „Stream Club“-Duo aus dem Dokumentarfilm AND YOU BELONG legte eine interessante Mischung aus PopElektroHipHop auf. Als ich ging, würde ich behaupten, sah ich Lore Richter noch hinter dem DJ-Pult. Die Festivalparty kann schließlich auch nur eine authentische Festivalparty sein, wenn wir dort den Leuten begegnen, die wir vorher noch auf der Leinwand gesehen haben.

Josefa Marxhausen
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Geschrieben von

achtung berlin

Der achtung berlin - new berlin film award ist ein Filmfestival, das sich mit Leib und Seele dem Hauptstadtkino verschrieben hat. 9.-16. April 2014

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