Festivaltagebuch, Tag 5: Schwarze Schafe

Film Der Mensch als moralisches Wesen, ideologisierte Welten, ein neuer Staat, auf ganzer Linie scheitern

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Das Nach Wriezen-Team vor dem Filmtheater am Friedrichshain
Das Nach Wriezen-Team vor dem Filmtheater am Friedrichshain

Foto: Yvonne Szallies-Dicks

Aus dieser unglaublichen Auswahl an rund 70 Filmen, die im Wettbewerb, als Berlin Highlights und Festival Director`s Choice und in der Retrospektive laufen, auszuwählen, welche Themen mich am meisten interessieren und welche Filme ich mir im Kino ansehen will, ist mehr als schwierig.

Da wäre ORANIA, ein Dokumentarfilm über ein Buren-Dorf (weiße Africaans), in dem keine anderen Ethnien und Kulturen zugelassen sind; ein Film über die Gratwanderung zwischen persönlicher Freiheit, kultureller Selbstbestimmung und Ausgrenzung anderer. Der Spielfilm SILVI über das sexuelle Erwachen einer 47-Jährigen Frau, der von meinem Kollegen Peter als heimlicher Favorit gehandelt wird. Ganz zu Schweigen von den tollen Kurzfilmprogrammen, von denen ich wenigstens schon einige bei der Sichtung sehen konnte.

Die beiden Filme, die ich mir heute ansah, standen an erster Stelle auf meiner Wunschliste. Auch wenn angesichts des super Wetters am Sonntag Nachmittag die Aussicht auf ein klimatisiertes dunkles Kino und einen eher deprimierenden und hoffnungslosen Film mich ein wenig Zögern lies. Nichts desto trotz machte ich mich kurz nach 16 Uhr von meinem Lieblingsplatz am Kanal auf zum FAF um NACH WRIEZEN – Ein Film über das Leben nach der Haft anzusehen. Die Protagonisten sind Imo, Jano und Marcel. Drei junge Männer, die vom Regisseur Daniel Abma und Kamera vom Tag der Entlassung an drei Jahre verfolgt werden. Man kann nicht sagen, die Kamera klebe an ihnen. Zu sehr ist das Misstrauen zu spüren und die Fragen, die der Regisseur an die drei stellt, bleiben behutsam, bohren nicht. Niemand wird angeklagt oder verurteilt, auch angesichts der Taten und Gesinnungen der jugendlichen Straftäter nicht. Gezeigt wird ein Leben und ein Lebensumfeld, mit dem sich wohl kaum einer im Publikum identifizieren kann. Mehr noch schmerzt es ihnen zuzusehen, wie sie im Laufe der drei Jahre scheinbar zwangsläufig Vater werden. Das schließlich einer der minderjährigen Mütter ihr Kind weggenommen wird, eine andere im Mutter-Kind-Projekt landet und nur die dritte (bereits erwachsene) sich tatsächlich auf ein Leben mit Kind einstellen kann. Reue nicht angesichts der Taten, sondern der Auswirkung dieser auf ihr eigenes Leben lässt mich erschaudern. Schwer vorstellbar bleibt, inwieweit die drei zurück zur Gesellschaft finden. Offene Fragen bleiben: Wo kommt das her, woher kommen solche Aggressionen? Wie viel Toleranz kann und muss ich aufbringen gegenüber der konsequenten Intoleranz?

Eine Überraschung ist Jano, der am Ende des Films wegen Drogendelikten wieder in den Knast geht, und nach dem Film vom Regisseur auf die Bühne geholt wird. Der sich den Film angesehen hat und sich den Fragen aus dem Publikum stellt.

Mich für ist NACH WRIEZEN ein sehr wichtiger Film. Ich komme mit Kreisen in Berührung, mit denen ich sonst nie etwas zu tun habe. Ohne alle drei über einen Kamm scheren zu wollen sind sie mir doch alle so fremd, teilweise so abscheulich und ekelig. Sie sind irgendwo Teil der Gesellschaft, aber sie nehmen sich eine Sonderstellung heraus, die die Frage aufwirft, ob sie tatsächlich Teil der Gesellschaft sein wollen und sollten. NACH WRIEZEN ist auf jeden Fall ein Film, der mich schwer beschäftigt, da er jedem theoretischen Gebrabbel über „wir müssen doch...“ und „wir dürfen doch nicht...“ eine Wirklichkeit gegenüberstellt, die von den jugendlichen Straftätern kommt. Es sind ihre Kommentare und ihr alltägliches Handeln, was im Film zu erleben ist. Und das macht nicht gerade Mut und weckt keine Hoffnung, weder für sie und eine hoffnungsvolle, geregelte Zukunft, noch für eine tatsächliche Resozialisierung.

Zu sehen ist NACH WRIEZEN noch einmal am 24. April um 20.15 Uhr im Babylon 3.

Für eine kurze Verschnaufpause lief ich vom FAF zum Babylon, um meinen ersten Spielfilm in diesem Jahr anzusehen. FREILAND feierte in einem fast ausverkauften großen Saal seine Berlin-Premiere. Es ist ein Film, der nach einer wahren Geschichte - basierend auf einer Zeitungsnotiz - entstanden ist: eine Hand voll Unzufriedener sucht sich ein Stück Land um ihren eigenen Staat zu gründen. Die Staatsgründung steckt noch in Kinderschuhen, als die ersten Probleme auftauchen: Staatspleite, Verknappung der Ressourcen, Hungersnöte. Leider wächst das Projekt auch nie aus den Kinderschuhen heraus und scheitert an genau diesen Problemen.

Manchmal geht mir alles zu schnell, und Entwicklungen der Figuren scheinen dem Schnitt zum Opfer gefallen zu sein: die plötzliche 180 Grad-Wende des Geldmachers Christian zum ideologisierten Kämpfer, oder der Spionin Nana zur Kollaborateurin. Ich kann auch den Protagonisten nicht abkaufen, dass sie sich wirklich Gedanken über den gesellschaftlichen Neuanfang gemacht haben, dazu habe ich schon viel zu oft mit Freunden darüber diskutiert und eigene Ideen entwickelt. Die neu gebackenen Bewohner von Freiland sind Mitläufer, die sich vom neuen Staat ein Refugium erhoffen; Niels als Hoffnungsträger und seine Entwicklung zum Diktator regungslos hinnehmen. Die Ideale kippen.

Im Gegensatz zu allen von mir davor gesehenen Filmen ist FREILAND eine unterhaltsame leichte Kost. Gerade zu Beginn kann er mit einigen humorvollen Stellen das Publikum auf seine Seite ziehen. Mehr und mehr baut sich eine Spannung auf, und die Geschichte überrascht mit unvorhersehbaren Wenden.

Als die Schauspieler nach dem Film auf die Bühne geholt wurden, spürt man, wie viel sie von ihrer eigenen Persönlichkeit in die Figur eingebracht haben. Das Drehbuch war ein zehnseitiges Script, alles Schauspiel Improvisationsleistung; Freiland wurde tatsächlich vier Wochen lang gelebt.

Der große Schrei nach Nachahmung ist der Film nicht. Eher das leise Schmunzeln unter Stammtischgenossen oder WG-Mitbewohnern nach dem dritten Glas Wein, die mit verklärten Blick vom schönen alten Landhaus inmitten eines großen Gartens träumen, irgendwo in Brandenburg ihr Freiland, den Posten eines Staatsministers innehabend, oder vielleicht sogar den des Kanzlers...

FREILAND ist ab Oktober diesen Jahren auch im Kino zu sehen.

Josefa Marxhausen
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Geschrieben von

achtung berlin

Der achtung berlin - new berlin film award ist ein Filmfestival, das sich mit Leib und Seele dem Hauptstadtkino verschrieben hat. 9.-16. April 2014

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