Medienethik Elon Musk agiert als Firmenchef bisher vermeintlich konfus. Die Öffentlichkeit und vor allem die Medien müssen besser verstehen, mit welcher Ideologie er Twitter steuert
Wer online etwas tut, tut es selten allein. Ständig finden wir uns auf Twitter oder Facebook in irgendwelchen Rollen oder Positionen wieder, ohne uns an einen expliziten Entschluss erinnern zu können, sie einzunehmen. Dennoch besteht weiterhin die Tendenz, so zu tun, als sei eine Online-Biografie ein Solitär, eine Insel. Wenn wir mit den Online-Aktivitäten einer prominenten Person konfrontiert werden – wie sie online klingt, was dahinterstecken könnte, etwa –, dann wird schnell so getan, als wüssten Menschen im Internet nicht, wie die Äußerungen anderer User zu bewerten seien.
Damit negiert die Öffentlichkeit ihre eigene kollektive Expertise in Sachen digitaler Kommunikation, weigert sich, ernst zu nehmen, was sie eigentlich weiß
weiß. Und duckt sich vor der Frage, welche Form der Verantwortung unsere Mitmenschen haben für das, was sie in soziale Netzwerke stellen. Dass User eine Äußerung als antisemitisch „verstanden“, lesen wir dann, oder dass in den sozialen Netzwerken die „Empörung“ hochschwappte. Die reflexive Verteidigung von Äußerungen etwa auf Twitter als freie Meinungsäußerung verdeckt eine viel kniffligere Frage: wie wir auf die Online-Äußerungen substanziell reagieren sollen, welche Benimmregeln legitim durchsetzbar sind.Ein Fall von „Twitter-Brain“Ein Beispiel: die Sprachspiele „Twitter-Mob“ oder „Shitstorm“ sind im deutschen Diskurs mittlerweile fest etabliert. Und gewiss sind beide in manchen Fällen angebracht: In sozialen Netzwerken bedarf es keines großen Aufwands, und noch weniger Informationen, um sich einer aufgebrachten Meute anzuschließen. Nur: Eine zweite Möglichkeit verschwindet in der Rede vom Twitter-Mob beinahe a priori – die Möglichkeit, dass die Menschen auf Twitter etwas anderes sehen, möglicherweise gar etwas Triftigeres, als Außenstehende. Mit anderen Worten: Es kommt natürlich häufig vor, dass im Tohuwabohu der Online-Welt Einzelaussagen ihren Kontext verlieren und (ob bewusst oder versehentlich) falsch verstanden werden. Was aber ist mit dem gegenteiligen Fall: Was ist mit Fällen, in denen der passionierte User sofort versteht, was gemeint ist, Außenstehende hingegen nicht?Das ist dieser Tage relevant, weil die Welt versucht zu verstehen, was der neue „Chief Twit“ eigentlich mit Twitter vorhat. Wie viele Seiten haben internationale Medien vollgeschrieben mit Deutungen, Vermutungen, Theorien bezüglich jeder einzelnen Aussage Elon Musks zu seinem neuen Spielzeug? Wie viel ist über politische Motivationen gemutmaßt worden, über sein eigenwilliges Verständnis von Meinungsfreiheit? Dabei wurde erstaunlich häufig eine sehr naheliegende Frage vernachlässigt: Wenn Twitters neuer Besitzer sich auf seiner Plattform austobt, nach wem oder was klingt er dann? Denn er scheint seine neue Aufgabe nicht wie ein Firmenchef anzugehen, und schon gar nicht nach dem Prinzip der Profitmaximierung. Er geht sie an wie ein ganz bestimmter Typ Twitter-Nutzer, dem fast per Zufall der Zündschlüssel in die Hand gedrückt wurde. Wenn man seine Maßnahmen bei Twitter primär als die eines Unternehmers bewertet, wirken sie einigermaßen konfus. Sinn ergeben sie, wenn man Musks Vorgehen als das eines enttäuschten Twitter-Fans, und zwar eines ganz bestimmten Twitter-Fans, versteht.Daher ist die Frage vielleicht eher: Was für eine Art Twitterer ist eigentlich der „Chief Twit“? In Elon Musks Kopf hineinschauen kann keiner. Aber wir können zumindest offen zugeben, wonach er klingt. Warum machte er sich ausgerechnet über „Shadowbanning“ Sorgen, warum wollte er unbedingt Daten zu Hunter Bidens Laptop öffentlich machen? Sehr viel triftiger, als sein Verständnis von Redefreiheit und von den Twitter dominierenden Kommunikationsproblemen aus irgendwelchen philosophischen Prämissen abzuleiten, ist es, zu sagen: Es ist ein Verständnis, das eindeutig in hart rechten Diskursräumen auf Twitter zu Hause ist. Sein Verständnis von Wokeness, von Twitters Firmenkultur, ja, sein Verständnis von Männlichkeit und Freiheit scheinen entwickelt im Dialog mit rechten Trollen. Dass Musk in den vergangenen Wochen vor allem als Großer Antworter auftritt („interessant, muss ich mir genauer anschauen“), und zwar für Figuren wie Ian Miles Cheong oder den Account „Libs of Tiktok“ (beides rechtsextreme Agitationskanäle), zeigt, woher sich sein Diskurs speist. Und somit auch ein Stück weit, wie er denkt.Das mangelnde Gespür dafür mag der Tatsache geschuldet sein, dass wir in einem genauen Verständnis von Twitter eher ein Manko denn einen persönlichen Vorteil zu sehen geneigt sind. Wer genug auf der Plattform unterwegs ist, der hat schnell einen Fall dessen, was im Englischen „Twitter-Brain“ heißt, und klingt dann auch meist dementsprechend. Twitter-Brain kommt in allen Farben und Ausprägungen vor: Trump-Fans, Anti-Trump-Twitterer und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit können es genauso bekommen, nur eben ihre ganz eigene Version. Ihre Sprache ist für Außenstehende kaum noch einsehbar. Nur: Im Fall eines Elon Musk, der genau so einen Fall von „Twitter-Brain“ hat, kann es sehr verzerrend sein, die Äußerungen Musks penetrant vom Kontext auf der Plattform loslösen zu wollen, fragen zu wollen: Was will er denn wirklich? Twitter-Brain heißt, dass genau diese Unterscheidung eigentlich ihre analytische Kraft einbüßt: Für Musk oder für Donald Trump gilt, ihnen war, als ob es tausend Tweets gäbe. Unter hinter tausend Tweets: keine Welt.Bei Personen, die in einem Online-Soziotop wie Twitter unterwegs sind, kann man allein aus sprachlichen Ticks ziemlich genau erkennen, wo sie vor allem unterwegs sind. Und Twitter-User, die wussten, wer Ian Miles Cheong war, die konnten schon recht früh erkennen, dass Musk sich vor allem in einer rechtsextremen Ecke von Twitter herumtrieb und deren Belange ernst nahm. Worum zum Beispiel ging es bei der groß angekündigten Veröffentlichung von Twitter-Interna um Twitters Umgang mit Medienberichten über Hunter Bidens Laptop? Wenn Sie die Verschwörungstheorie über die E-Mails des Präsidentensohns durchschauen, dann verneige ich mich – ich verstehe sie jedenfalls nicht mehr. Und das ist der Punkt: Um diese Theorie für interessant, relevant und, mehr noch, als Indikator für Twitters Umgang mit freier Meinungsäußerung zu werten, muss ein Mensch sehr viel Zeit in ganz bestimmten Ecken des Internets verbringen. An Musks Aktivitäten als Twitter-Boss kann man somit ziemlich genau ablesen, wo Musk sich online herumgetrieben hat.Musk vereinigte gleich mehrere Twitter-Typen in seiner Person: den überreichen Silicon-Valley-Investor, der geradezu masochistisch unausgegorenes Zeug in die Diskursstrudel schmeißt, irgendwie doch wissend, dass seine Idee nur in hämischen Drukos (Kommentare unter Tweets; Anm. d. Red.) oder parodistischen Memes weiterleben wird; den alternden Unternehmer, der verzweifelt die Coolness haben wollte, die Geld nicht kaufen kann, und der sich gerade deshalb ständig lächerlich macht. Den „Reply-Guy“, eine Figur, die vor allem in den Drukos von prominenten Frauen zu Hause ist und dort verzweifelt versucht, die Diskurshoheit an sich zu reißen. Übereifrig, beflissen und nie auch nur annähernd so witzig, wie er denkt, ist der Reply-Guy der Fluch der Existenz eines jeden Twitter-Nutzers, unabhängig von Gender.Und eben den rechten Troll, den frisch geschiedenen mittelalten Mann, der in irgendwelchen Chaträumen und Twitterecken das durchgemacht hat, was man als „Redpilling“ bezeichnet: ein dramatischer Perspektivenwechsel, in dem dem Betreffenden (wie Neo in Die Matrix, dem Film, aus dem die Metapher stammt) die wahren Machtverhältnisse der Welt schlagartig klar werden – eine Metapher, die Musk eindeutig aus rechten Diskursräumen und „Männerrechtsgruppen“ übernahm. Weiterhin legendär auf Twitter ist ein Trialog aus dem Jahr 2020: „Nehmt die rote Pille“, schrieb Elon Musk, Präsidententochter Ivanka Trump setze den Drüberkommentar: „Ich habe sie genommen“ hinzu, woraufhin Lilly Wachowski, Co-Regisseurin von Die Matrix antwortete: „fickt Euch beide.“ Diese Rekonstruktionen mögen für viele Leser einigermaßen abstrus klingen. Sie sind es gewissermaßen auch. Nur sind sie leider eben auch: relevant. Wir haben im gesellschaftlichen Diskurs noch keine Mechanismen, um diese Form von Evidenz zur Sprache zu bringen. Wir behandeln Tweets vor allem als ein Dahingesagtes. Die Art Evidenz, die sich zum Beispiel auf den Diskursbausteinen der Online-Äußerungen einer prominenten Figur, oder die Art Evidenz, die sich aus der Gesamtheit eines Interaktionsprofils eines prominenten Users ergibt, gilt uns generell gesprochen noch nicht als beweiskräftig. Was dazu führt, dass wir ständig darüber rätseln, ob jemand „wirklich“ so oder so tickt, anstatt zu sagen: Er bewegt sich jedenfalls in einem Diskurs, der dies und jenes voraussetzt. Grenzen aufzeigen könnenSchön kann man das am Fall der Schriftstellerin J.K. Rowling zeigen. Bis heute wird gerne noch geschrieben, sie habe auf Twitter „nichts weiter“ geschrieben, als dass sie die Bezeichnung „Menschen, die menstruieren“ lächerlich fände; sie habe „nichts weiter“ getan, als auf die häusliche Gewalt in ihrer eigenen Biografie hinzuweisen. Woraus sich implizit immer ergibt, ihre Kritiker hätten auf Petitessen überreagiert. Das aber eben hieße, Twitter misszuverstehen: Jemand, der sich in den richtigen Ecken des sozialen Netzwerks auskennt, konnte genau erkennen, mit wem sich Rowling austauschte und wo sie sich solidarisch zeigte. Man konnte genau erkennen, wo die Autorin ihre Stichworte hernahm, ihre Witzpointen, ihre Beispiele.Man kann ihre Meinung, oder zumindest ihr gutes Recht, diese Meinung zu haben, trotzdem verteidigen. Nur: So zu tun, als sei sie für eine Nichtigkeit ins Kreuzfeuer zwischen duellierenden Twitter-Mobs geraten, ist eine eindeutige Fehlbeschreibung. Rowling hat sich zu einer Seite bekannt und in eine Debatte eingegriffen. Man mag sie dafür feiern oder scharf kritisieren. Was man nicht tun sollte: so tun, als habe sie es nicht getan. Das „nichts weiter” ist eine Fehlinterpretation, die die Verfasstheit der digitalen Öffentlichkeit bewusst naiver behandelt, als wir es eigentlich müssten.Und so lange das gilt, wird die politische Verortung von Personen wie Elon Musk ein Mysterium bleiben. Und das ist – egal, ob man sich jetzt lange mit Twitter auseinandersetzen möchte oder nicht – beim zeitweise reichsten Mann der Erde tatsächlich einigermaßen gefährlich. Denn wenn wir nicht verstehen, mit welcher Ideologie ein Superreicher einen der immer noch dominanten Kommunikationskanäle steuert – und, so muss man hinzufügen, äußerst aktiv und impulsiv steuert –, dann wird es der Offline-Öffentlichkeit sehr schwer werden, der Twitter-Öffentlichkeit Grenzen aufzuzeigen. Wenn darüber allerdings Klarheit herrscht, dürfte auch ein von einem rechten Troll geleitetes Twitter seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs leisten können. In bestimmten Fällen sind wir als Öffentlichkeit äußerst sensibel für Radikalisierungsprozesse. Wir verstehen, wie Menschen sich in eine Onlinewelt versteigen und schließlich verlieren können. Aber für den Fall des reichsten Mannes der Welt scheint das nicht zu gelten – wir verlernen, was wir eigentlich schon wissen. Eine effektive demokratische Medienethik würde das Gegenteil gebieten.Placeholder infobox-1