Realitätscheck

Bildungspolitik Durch Gesetzesveränderungen bereitet die NRW-Landesregierung den Weg zur weiteren Flexibilisierung von Kinderbetreuungsverhältnissen und damit auch Arbeitsverhältnissen

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Aktuell steht die Betreuungssituation von Kindern im Fokus politischer Diskussion. Wenn dies normalerweise der Fall ist, dann geht es meistens darum, ab wann man Kinder denn in die Hände ausgebildeter Erzieher:innen geben sollte oder ob Mütter nicht noch länger zuhause bleiben sollten (Stichwort Betreuungsgeld). Denn Kinderbetreuung ist schließlich nur die eine Seite der Medaille: nicht umsonst spricht man von frühkindlicher Bildung. Dieser Konflikt ist meistens einer zwischen progressiven und konservativen Positionen. Momentan geht es aber vielmehr darum, dass Kinder überwiegend gar nicht betreut werden können, weil wir uns in einer globalen Pandemie befinden. Das hat sich mit Beginn dieser Woche wieder ein wenig geändert und schon sieht man wieder Eltern (größtenteils Mütter) ihre Kinder zur Kita bringen oder abholen.

Oftmals geht in der breiten Berichterstattung unter, dass auch frühkindliche Bildung ein Austragungsort politischer Konflikte ist. Die Debatte hat vor Jahren um das angesprochene Betreuungsgeld gekreist, welches vom Verfassungsgericht aufgrund einer fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes kassiert wurde, da somit ein Verstoß gegen das Grundgesetz festgestellt worden war. Grundlegend für die frühkindliche Bildung und die anderen Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe ist das Achte Sozialgesetzbuch, welche die Kommunen und Kreise als öffentliche Träger der kommunalen Jugendhilfe bestimmt. Daraus entwickelten sich in den Jahren unterschiedliche Ausführungsgesetze, die sich teilweise erheblich in ihrer Beschaffenheit unterscheiden, wenn man Bundesländer miteinander vergleicht.

Frühkindliche Bildung

In Nordrhein-Westfalen gibt es seit Jahren das sogenannte Kinderbildungsgesetz (KiBiz), welches vor allem die Kinderbetreuung in Tageseinrichtungen und Tagespflege regelt. Im vergangenen Jahr, am 01.08.2020, ist eine Novellierung dieses Gesetzes in Kraft getreten. Grundlegender Tenor der Veränderungen sind mehr Angebote für berufstätige Eltern zur Betreuungsversorgung ihrer Kinder und vor allem die Flexibilisierung der bisher bestehenden Angebote.

Der nordrhein-westfälische Familienminister, also der Verantwortliche für diese Gesetzesnovelle, ist Joachim Stamp von der FDP. Seine Partei koaliert zusammen mit der CDU unter dem gerade frisch gewählten CDU-Vorsitzenden Armin Laschet. Es mag wohl keine kühne Behauptung sein, beide Parteien als eher arbeitgeber- statt arbeitnehmernah zu beschreiben. Grundsätzlich gab es in der Anfangszeit der BRD die geordneten Bonner Verhältnisse, in denen klare ideologische Abgrenzungen in einem austarierten Parteiensystem beobachtet werden konnten. Dass diese Grenzen heute nicht nur aufgeweicht, sondern stark verschoben sind, ist nun keine Neuigkeit mehr. Die Politischen Systeme befinden sich spätestens seit der 1989er-Zeitenwende in einem beständigen Wandel, Ergebnis offen.

Vereinbarkeit von Arbeit und Familie

Der Sprecher für Familie und Kinder der FDP-Landtagsfraktion, Marcel Hafke, erklärte die KiBiz-Novellierung zu einem großen Wurf in der Familien- und Bildungspolitik. Dabei fällt auf, dass vorwiegend betont wird, dass die neuen Anpassungen bestehender Angebote oder die im Gesetz nun enthaltenen Ziele zur Anpassung der Umstände auf die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, von Kinderbetreuung und Beruf einhergeht. Es zeigt sich hier der wohl wichtigste Diskursstrang, der von Seiten der FDP in der Debatte im „gute“ Familien- und Bildungspolitik verhandelt wird: wie kann, unter vermeintlich guten qualitativen Voraussetzungen, die Kinderbetreuung der Arbeitswelt dienen?

Dies ist zunächst mal nichts Schlechtes. Schließlich liegt eine Hauptfunktion von Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege darin, die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung herzustellen. Doch sollte dies auch die Hauptfunktion sein? Wenn man nun einen FDP-Politiker dazu befragen würde, wäre die Antwort eindeutig: natürlich nicht! Doch die Ausrichtung der Politik deutet auf etwas anderes hin.

Eine Landesregierung wie die nordrhein-westfälische gibt jedes Jahr Millionen über Millionen von Geldern aus, um frühkindliche Bildung in den Kommunen und Kreisen zu bezuschussen. Nun wurde festgesetzt, dass die Kommunen zusätzliche Zuschüsse für die Gestaltung von flexibleren Öffnungszeiten ihrer Tageseinrichtungen beantragen können. Natürlich alles entsprechend der Voraussetzung, dass die personellen und organisatorischen Gegebenheiten dafür vorhanden sind. Was nun wieder wie ein Vorstoß in eine positive Richtung klingt, hat aber auch seine erheblichen Schattenseiten: es wird vermeintlich gar nicht hinterfragt, weshalb denn überhaupt die Idee aufkommt, dass eine Flexibilisierung notwendig ist.

Im Klartext bedeutet eine solche Flexibilisierung die Loslösung von bestehenden Öffnungszeiten in Kitas, die sich meistens im Bereich zwischen 7 und 17 Uhr bewegen. Diese orientieren sich an einer Art Normalarbeitszeit (zwischen 37,5 und 40/41 Wochenstunden bei einer Vollzeitstelle), wie sie verschwindend geringer praktiziert wird – so hat man den Eindruck. In vielen Diskussionen, die nicht nur eine ganzheitliche Transformation der Arbeitswelt (Arbeit 4.0 o.ä.) im Sinn haben, geht es auch konkret um das Normalarbeitsverhältnis, welches letztlich gar nicht mehr so normal ist. Wenn also zunehmend mehr Menschen abseits der früher als regulär angesehenen Arbeitszeiten arbeiten, dann bietet sich auch eine Flexibilisierung der Möglichkeiten der Kinderbetreuung an. Das scheint eine bestechende Logik zu haben, die man nicht abstreiten kann.

Die Konsequenzen tragen alle

Die Frage, die sich dabei stellt, ist die nach den Konsequenzen dieser Entwicklung: es mag sich durch die Corona-Pandemie gerade sowieso etwas Grundlegendes in der Arbeitswelt verändern (Stichwort Home-Office/Telearbeit), aber politische Richtungsentscheidungen wie die der Flexibilisierung von Kita-Öffnungszeiten, welche einen strukturellen Wandel des Systems frühkindlicher Bildung weiter befeuert, bestärken den eingeschlagenen Weg damit noch. Dabei ist nicht geklärt, ob dies überhaupt ein positiver Weg für die Bereiche Arbeitswelt und Bildung ist. Es haben sich im Laufe der letzten Jahre bestimmte Trends bestätigt: trotz der prognostizierten demographischen Entwicklung mit abnehmenden Geburtenzahlen wurde im Bereich der unter 3-Jährigen ein erheblicher Ausbau in Kitas und Tagespflege notwendig, da immer mehr Eltern schon früh zurück in den Beruf wollen und Betreuung für ihr(e) Kind(er) benötigen. Das zeigt sich ebenfalls am Anstieg der benötigten längeren Betreuung in Kindergärten (bis zu 45-Wochenstunden) oder der Ausbau der Offenen Ganztagsschulen (OGS).

Wenn aber nun die Öffnungszeiten weiter flexibilisiert werden, bringt es die Träger von Kindertageseinrichtungen ebenfalls in die Situation, die Arbeitszeiten der Mitarbeiterinnen strukturell zu verändern. Da aufgrund schwankender und nicht zu prognostizierender Geburtenzahlen viele Erzieherinnen sowieso nur befristete Verträge im Rahmen von ein bis zwei Jahren erhalten, wird eine Flexibilisierung der Öffnungszeiten (vor 7 Uhr, nach 17 Uhr, am Wochenende) diese Tendenz noch einmal verstärken. Damit führt die Kompensation vom Wandel der Arbeitszeitverhältnisse zu einer weiteren Deregulierung in dem Sinne, dass weitere Berufsfelder den nun sich verbreiteten Bedingungen angeglichen werden. Schlussendlich müssen von nun an Erzieherinnen auch mit verstärkt prekären Arbeitsverhältnissen zurecht kommen. Statt also der Entwicklung etwas entgegen zu verstellen, wird diese nur ausgeweitet.

Die Zukunft von Arbeit und Familie

All die beschriebenen arbeitsweltlichen Entwicklungen, welche unmittelbar mit dem ganzen Bildungssystem zusammenhängen, führen zu einer weiteren Entgrenzung von Privat-/Familien- und Arbeitsleben. Das mag vielleicht von vielen gewünscht sein, aber es herrscht keine Perspektive vor, welche den Fokus stärker auf die qualitative Weiterentwicklung von Arbeitsverhältnissen und Bildungssituationen legt. Natürlich sind Ansätze vorhanden, aber der Überhang des ökonomischen Faktors (sowohl im finanziellen Sinne als auch in der Einteilung von Zeit) ist deutlich.

Unkritische Stimmen würden nun vom Fetisch des Kapital, des Profitstrebens- und maximierens sprechen, aber letztlich gehen solche strukturellen Probleme immer auf viele Ursachen zurück. Die FDP ist, trotz der Aufweichung ideologischer Grenzen, immer noch eine im Kern wirtschaftsliberale Partei, welcher die Flexibilisierung von Lebensmodellen in jeder Hinsicht ein inhärentes Ziel ist. Dies ist aber nicht nur Folge einer ideologischen politischen Ausrichtung, sondern selbstverständlich Ergebnis von einer lobbystarken Arbeitgeberlandschaft, welche im besten Fall die größtmögliche Flexibilisierung zur bereitwilligen Nutzung von Arbeitskräften anstrebt. Hier wieder: auch wenn Arbeitnehmer:innen sich dies ebenfalls wünschen, macht dies die Absichten der Arbeitgeber:innen nicht grundlos und nicht irrelevant.

Vielleicht sollte der Fokus, gerade in der Bildungspolitik, aber auch in der Arbeits(markt)politik, auf der qualitativen Verbesserung der Zustände liegen und nicht nur auf der Reaktion auf bestehende Entwicklung, die damit nur verstärkt werden. Der Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, hat schon vor einiger Zeit eine 4-Tage-Woche für Arbeitnehmer:innen vorgeschlagen. Dies ist ein relativ plakativer, einfacher Ansatz, dem Strukturwandel zu begegnen, aber er ist auch ein insgeheimes Plädoyer für besseres Leben. Und ist „Gute Arbeit“ nicht nur in Verbindung mit gutem Leben zu denken? Genauso fehlt es, wie klar geworden sein sollte, im Bildungssystem an ganz vielem. Die technische Ausstattung ist grauenhaft, das hat das notwendig gewordene Home Schooling klar gemacht, wo seit fast einem Jahr gelinde gesagt nur Probleme herrschen und die Bildung der Schüler:innen sowie die Arbeit der Lehrer:innen verunmöglichen.

Möglicherweise ist also die im KiBiz enthaltene Flexibilisierung der Öffnungszeiten von Kitas nur eine Reaktion auf bestehende Bedarfe in Kommunen und Kreisen, aber die Überbetonung dieser quantitativen, reaktiven politischen Steuerung entbehrt, wie so viele politische Handlungsfelder, eine kompetenten, zukunftsstarken Vision, wie man die großen gesellschaftlichen Herausforderungen hinzu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse anpacken kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Alexander Engelen

I resist what I cannot change / But I wanna find what can't be found

Alexander Engelen

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