Ihre Sachen stehen immer noch gepackt im Flur: eine Jeans, Blusen, Unterwäsche, Pass, die Geburtsurkunde. Und eine getöpferte Ente, die Lorna King nicht zurücklassen wollte. Es war Nacht, gleich zum Jahresanfang, als die Warnung auf ihrem Smartphone aufblinkte: Die Einwohner von Bairnsdale sollen sich umgehend auf die Evakuierung vorbereiten.
15.000 Menschen wohnen in diesem Ort im südöstlichen Bundesstaat Victoria, an dessen Stadtgrenze das Feuer angekommen war. King packte ihre Sachen, nur das Nötigste. Seit Monaten hatte sie die Geschichten gehört. Sie wusste von Freunden, die so plötzlich vor den Feuern fliehen mussten, dass sie nichts mehr hatten retten können als die Sachen, die sie trugen. Sie kannte Leute, deren Häuser komplett abgeb
lett abgebrannt waren. In dieser Nacht habe sie kaum geschlafen. „Wir hätten nichts tun können“, sagt Lorna King.Als sie knapp eine Woche später in ihrer Küche von dieser extremen Beunruhigung erzählt, ist das Feuer wieder gut 20 Kilometer entfernt. King, eine Frau im Rentenalter, mit bunter Bluse und schnellem Gang, ist in Bairnsdale mit den Buschfeuern aufgewachsen. Dieses Mal aber sei es anders gewesen, die Brände hätten die Kleinstadt von fast allen Seiten umzingelt. „Ich habe noch nie so etwas wie diese Feuerwalze gesehen“, berichtet King.Es könnten in den letzten Wochen die größten Buschbrände gewesen sein, die das Land je erlebt hat. Noch nie kamen sie den bewohnten Küstenregionen so nahe. Fast 30 Menschen sind landesweit seit Beginn des Infernos ums Leben gekommen. Über zehn Millionen Hektar – eine Fläche von der Größe Bayerns und Baden-Württembergs – sind abgebrannt, verkohlt, vernichtet: Häuser, Straßen, Ackerland und Wälder, Erinnerungen und Heimatbilder gingen verloren, dazu der Lebensraum für Millionen von Tieren. Die langfristigen Folgen werden erst nach der Katastrophe sichtbar sein.Zwar durchzogen zuletzt Regen- und Gewitterstürme Australiens Südosten, mancherorts gibt es heftige Überschwemmungen. Das Risiko neuer Brände verringere sich dadurch aber nicht, sondern bleibe extrem hoch, zitiert die Zeitung Herald Sun das Bureau of Meteorology.Exil für eine PythonAn diesem Mittag hängen auch Regenwolken über Bairnsdale. Eine kurze Pause für die Feuerwehrmänner und -frauen sowie die Gelegenheit, sich auf die nächste Hitzewelle vorzubereiten. Es ist für einige Zeit rauchfrei in der Wohngegend, in der Lorna King lebt. Wilde Rosen umranken den Gartenzaun. Im Hof parkt ihr Dienstwagen mit der Aufschrift „Wildlife Rescue“ und einer Telefonnummer.Lorna King ist so etwas wie eine Krankenschwester für Tiere. Anwohner rufen sie an, wenn sie ein verlorenes oder verletztes Wildtier finden. Dann steigt King in ihren Wagen, zieht die Warnweste an und fährt in den Busch. Manchmal fängt sie Tiere ein und bringt sie in eine Tierpraxis. Oft jedoch sind die Verletzungen zu schwer, sodass eingeschläfert wird. Manchmal nimmt Lorna versehrte Tiere auch mit zu sich nach Hause. In einem öffentlichen Register wird sie von der Gemeinde Bairnsdale als „Tierretterin und Schlangenfängerin“ geführt. Als die Brände kaum mehr beherrschbar waren, kam im Rathaus eine Mitarbeiterin besorgt auf Lorna zu, um ihr zu sagen: Fahren Sie nicht mehr raus!Dabei mache sie das doch schon ihr ganzes Leben lang, sagt sie, während Insekten mit dem Küchenmesser zerteilt werden. So entsteht eine Mahlzeit für die Mitbewohner: eine Python, eine Nachtschwalbe und acht Nymphensittiche, die sie aufgenommen hat, seit das Haus ihrer Freundin abgebrannt ist. Im Eingangsbereich steht ein Fangnetz, in der Küche gibt es Käfige und Körbe. Als das Handy auf der Küchentheke vibriert, setzt sie die Brille auf. 17 Nachrichten. Seit die Buschbrände Bairnsdale durchquert haben, bleibt für die Tierretterin erst recht viel zu tun.Die Tiere, die sie und die Veterinärmediziner in Bairnsdale vorfinden, seien durch das Feuer zu Tode verängstigt und oft schwer gestört. Wildtiere kennen das Feuer, sie fliehen oder graben sich in die Erde ein. Diesmal aber sei das Ausmaß der Brände unbeschreiblich gewesen. King erzählt von Schildkröten, die zu früh aus dem Wasser kamen und dadurch sofort verbrannten. Von Vögeln, die im Rauch die Orientierung verloren. Manchmal kann sie Tiere nur noch erlösen. Fragt man King, bei wie vielen das unumgänglich sei, zuckt sie mit den Schultern: „Das weiß keiner.“Nach einer Hochrechnung der Universität Sydney für den Katastrophenfall von 2009, die im September 2019 bestätigt wurde, wäre die Antwort: 480 Millionen. So viele Tiere könnten allein im Staat New South Wales den Buschfeuern zum Opfer gefallen sein. Dabei geht es nur um Säugetiere, Vögel und Reptilien; nicht berücksichtigt sind neben Insekten Fledermäuse oder Frösche. Den langfristigen und wirklichen Verlust in der Tierwelt kann die Hochschule in Sydney derzeit nicht beziffern.Placeholder image-1Besonders betroffen sind einige der seit jeher stark gefährdete Tierarten. Sechs Wissenschaftler aus Australien warnen in der Zeitung The Conversation, es seien mindestens zwanzig und höchstens hundert der akut bedrohten Tierarten durch die Feuer vom Aussterben bedroht. In einem sind sich diese Analysten einig: Obwohl Nutz- und Wildtiere die Buschfeuer gewohnt sind und sich angepasst haben, gingen die jüngsten Brände weit über die Grenzen dessen hinaus, was mit dieser Anpassung womöglich verkraftet werden kann.Wenige Kilometer von Lorna Kings Haus entfernt kann Graeme Fullgrabe etwas genauere Zahlen über betroffene Tiere nennen: 600 Rinder sind es, die sich in den Stallungen der Viehbörse befinden. Fullgrabe, blaues Hemd und Lederhut, ist Viehhändler und Farmer. Ein Mann, der praktisch denkt – in Viehpreisen und Risikowerten. Er ist jemand, der nicht an den Klimawandel glaubt, sondern an politische Fehlentscheidungen.Ticket für RinderGerade ist Mittagspause. Fullgrabe gestikuliert mit einem verpackten Sandwich in der Hand, während Vieh verladen wird. Medienleute haben auf dem Parkplatz eine Kamera aufgebaut. Die Viehbörse ist eine Art Sammellager für Tiere geworden, die vor allem deshalb verkauft werden, weil ihre Eigentümer vor den Feuern fliehen mussten. Vor ein paar Tagen seien evakuierte Pferde aus betroffenen Gebieten eingeliefert worden, erinnert sich Fullgrabe und stemmt die Hände in die Hüften. Die Namensschilder hängen noch an den Gattern. Evakuiert oder verkauft? Dieser Tage ist das hier dasselbe.Ein Viehlaster rollt an. Das seien siebzig Rinder direkt aus einem Brandgebiet, bemerkt Fullgrabe. Er steht auf einer metallenen Brücke, von der man auf alle Ställe blicken kann. „Hier sind schon ihre Schwestern und Brüder“, meint er und deutet auf Rinder, die sich auf den Boden gelegt haben. Der Transport hätte sie erschöpft, erklärt er, sie seien müde.In den nächsten Tagen würden an diesem Ort 4.000 Tiere oder mehr stehen, prophezeit Fullgrabe. Nordwind könne die Feuer wieder anheizen, auch wenn es derzeit nicht den Anschein habe. Er fragt sich, wohin die enormen Bestände gebracht werden könnten. Die Farmer wollten sie loswerden. „Sie können ihnen kein Futter mehr geben, denn sie haben nichts mehr.“ Fullgrabe berichtet von Viehtransportern, die in Autokolonnen feststecken oder auf gesperrten Straßen stranden. Schnell könne es zu spät sein, sie weitertransportieren zu wollen. Was das bedeutet, liegt auf der Hand.Die Regierung des Staates Victoria hat einen Notfallplan herausgegeben. Der Victorian Emergency Animal Welfare Plan rät den Anwohnern, die Tiere mit Kontaktdaten zu markieren und genügend Wasser und Futter zur Verfügung zu stellen, falls es Probleme mit der Evakuierung gebe. Seit dem 7. Januar ist ein mobiles Notrettungsteam für Tiere in Bairnsdale stationiert. Graeme Fullgrabe: „Die Tiere haben oft verletzte Hufe und Bäuche.“ Viele könnten dann nur noch getötet werden, nicht einmal ihr Fleisch sei noch brauchbar. Die überlebenden Tiere liefen verwirrt umher. Es gebe keine Zäune mehr. „Diese Katastrophe wirkt lange nach. Sie wird die Landwirtschaft Milliarden kosten“, ist Fullgrabe überzeugt.Australiens Premierminister Scott Morrison hat den Städten und Farmen umgerechnet 1,2 Milliarden Euro an Zuschüssen für den Wiederaufbau zugesprochen. Fullgrabe zieht die Schultern hoch: „Die Politiker kommen nur, lassen Bilder machen und schütteln Hände, aber was passiert? Sie schieben die Schuld hin und her.“ Sie hätten den Farmern Geld geboten, damit die ihre Häuser verlassen, umgerechnet 300 Euro für jedes Kind.Graeme Fullgrabe hat das abgelehnt, auch als das Feuer 200 Meter vor seinem Haus loderte. Er hatte vorgesorgt und bereits kurz vor Weihnachten all seine Rinder verkauft, sie in „das grüne Land“ geschickt – ins drei Stunden entfernte Melbourne. Per One-Way-Ticket sei das geschehen. Fullgrabe schaut auf seine Schuhspitzen. Unter der Metallbrücke brüllen Hunderte von Rindern, er hält sich am Geländer fest.Was den Brand in der Nähe seines Anwesens aufgehalten habe? Nicht die Feuerwehrleute, erzählt er. Mutter Natur sei das gewesen, der Wind habe im letzten Moment noch gedreht. Er höre von der desaströsen Bilanz der Katastrophe Tag für Tag, vernehme die Zahlen über Tote und Verletzte. Und er frage sich: „Wer registriert die Verzweiflung, die Depressionen, die Ausweglosigkeit?“ Wer die Herzattacken, die erst später kämen? „In welchem Zustand sind die Menschen, wenn sie tagsüber nicht mehr arbeiten und nachts nicht mehr schlafen können?“ Dagegen würden die Versprechen der australischen Regierung und die Spendengalas auf der ganzen Welt nicht viel ausrichten.Placeholder authorbio-1
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