Das Aua in der Aura

Elite Das HKW in Berlin zeigt erstmals das Hauptwerk des großen Aby Warburg im Original, dachte aber leider nicht an die Besucher*innen
Ausgabe 37/2020

Diese Ausstellung sei ein „Jahrhundertereignis“, behauptet Bernd Scherer, Direktor des Berliner Hauses der Kulturen der Welt (HKW) unverhohlen und mit allergrößter Geste, wenn er über Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne spricht, den das HKW seit letzter Woche beherbergt. Was das Material der Ausstellung angeht, mag er recht haben. Die Rolle seines Hauses überschätzt er hingegen.

Aby Warburg war einer der einflussreichsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Der Bilderatlas, sein letztes Projekt, galt 90 Jahre lang als verschollen. Es ist ein kurioses Werk, das nun inmitten des Berliner Tiergartens zu finden ist. In mehreren großen Bögen angeordnet, stehen dort 63 mit schwarzem Stoff bespannte Rahmen, an denen jeweils Dutzende (insgesamt 971) Bilder in einer von Warburg eigens festgelegten Anordnung angepinnt sind. Grobe silberne Klammern halten Reproduktionen von Kunstwerken aus dem Mittleren Osten, der europäischen Antike und der Renaissance, aber auch Werbung, Briefmarken und Spielkarten.

Wer unvorbereitet hingeht, wird ratlos bleiben. Die Tafeln sind unkommentiert, die Bilder ohne Beschriftung – so wie Warburg sie hinterlassen hatte. Der eklektische Mix wirkt etwas verrückt, was zu dem unheilbar manisch-depressiven Warburg passt. Der vor allem anderen ein obsessiver Leser war. Eine der beliebtesten Warburg-Anekdoten ist, dass er als ältester Sohn einer Hamburger Bankiersfamilie das Recht auf Übernahme des Familiengeschäfts an seinen Bruder abgab und als Gegenleistung lediglich die lebenslange Versorgung mit Büchern forderte. Als wäre er einem Roman Thomas Manns entstiegen.

Kunst über Zusammenhänge

Die Obsession übertrug sich auf das „Lesen“ von Bildern, die für ihn schon immer in einem komplexen Beziehungsgeflecht zueinander standen. Der Antike-Bezug von Botticellis Die Geburt der Venus (1485/86) war sein Dissertationsthema. Im Gegensatz zur damaligen Kunstwissenschaft interessierte er sich aber nicht für Stile, Farben oder Maltechniken, sondern neben visuellen auch für geschichtliche, kulturelle und philosophische Zusammenhänge. Er wusste nicht nur, dass es Bezüge von der Renaissance zur Antike gab, sondern hatte auch eine (von Friedrich Nietzsche entlehnte) Kulturtheorie dafür parat, warum das so war. Das überstieg die bis dahin üblichen Grenzen der Kunstgeschichte. Die Erfindung dieser interdisziplinären Praxis hat ihm anhaltenden Ruhm eingebracht. Der Bilderatlas Mnemosyne, nach der Göttin der Erinnerung benannt, ist eine visuelle Darstellung solcher Bild-Beziehungsgeflechte. Da hängt zum Beispiel Rembrandts Verschwörung des Claudius Civilis neben einer Skizze von Das Letzte Abendmahl aus dem 17. Jahrhundert, umringt von Detail-Ausschnitten und der gezeichneten Abbildung einer Galerie des Königlichen Palasts in Amsterdam von 1820. Die Zusammenhänge sind oft höchst unklar.

Doch für Warburg spannte der Atlas (ein früher geläufiges Wort für Bildband) ein Netz aus Bild-Erinnerungen auf. Es ist eine neue Form der Erschließung, die nicht über Beschreibung, also Wörter, funktioniert, sondern über das Sehen. Das war revolutionär. Man stelle sich mal vor: Statt an seinem Lebensende noch eine ordentliche Monografie zu schreiben, sortierte der späte Warburg mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen jahrelang Bilder auf Tafeln hin und her, ohne auch nur ein Wort darüber zu schreiben. Er glaubte, dass man die symbolischen Verbindungen der Bilder über Kontinente und Jahrhunderte hinweg eben am besten in der Nebeneinanderstellung erkennen könne. Ohne störende Erörterung. Der Warburg-Forscher Georges Didi-Huberman, der dieses Jahr den Aby Warburg-Preis der Stadt Hamburg gewonnen hat, nannte das Ergebnis eine „kaleidoskopische Phänomenologie“. Viele wird es heute an Bildzusammenstellungen von Internetsuchmaschinen erinnern.

Nach seinem Tod 1929 wanderten die Bilder zurück ins Archiv der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW), die dann nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach London umzog und zum Warburg Institute wurde. Einige wenige Rekonstruktionen gab es, unter anderem 2016 im ZKM Karlsruhe. Die arbeiteten jedoch mit Kopien. Erst Roberto Ohrt und Axel Heil, die Kuratoren der Ausstellung im HKW, bargen die Originalreproduktionen aus dem Archiv, die auch Warburg verwendet hatte.

Man ist beeindruckt davon und darf es auch sein. Immerhin suchten sie aus 400.000 Objekten des Archivs die richtigen 971 zusammen. Wenn Walter Benjamin eine Aura des Reproduzierten erlauben würde, dann wäre das die richtige Bezeichnung für die Erfahrung, mitten in dieser Sammlung zu stehen. Nur scheint bei all dem Arbeitsaufwand im Archiv keine Energie mehr dafür geblieben zu sein, die Collagen auch zu erklären. Zwar arbeiten die Kuratoren an einem wissenschaftlichen Kommentar, der in einigen Jahren erscheinen soll. Doch für die Ausstellung selbst ist die kreative kuratorische Leistung gering ausgefallen. Die von Warburg konzipierte Anordnung der Tafeln wurde einfach kommentarlos reproduziert. Ihr zu folgen, hilft nur wenig. Die spärlichen Hinweise im Raum sind nutzlos. „Mantegna / Manet / Dürer“ ist irgendwo auf den Boden gedruckt. Aha. Wäre es nicht interessant und auch nötig gewesen, die historischen Verbindungen, die kulturellen Bezüge, die Warburg gefunden haben will, aufzuschließen? Hier und da ein Info-Schild über die lückenhafte Nummerierung der Tafeln, das erst auflachen und dann verzweifeln lässt. Da haben die Kuratoren wohl ihre eigenen Sorgen für zu voll genommen, statt sich auf das Wichtigste zu konzentrieren: die Besucher. Denn die mutmaßen nicht primär, warum Tafeln fehlen, sondern wollen zumindest eine mal erklärt bekommen!

Doch der Ärger darüber trifft weniger Warburg als das Haus, in dem man sich befindet. Man fragt sich nicht zum ersten Mal, was genau hier eigentlich die Rolle des Museums, der Kunst-Institution ist. Das HKW sieht sich, ebenfalls nicht zum ersten Mal, offenbar in der fragwürdigen Pflicht, Komplexitäten einfach aufzuzeigen, ohne diese in irgendeiner Form produktiv zu machen. Man läuft durch undifferenziert Zusammengestelltes, das sich, davon wird hier wohl ausgegangen, im Kopf des Besuchers wohl irgendwie in Sinn übersetzen lassen müsste.

Ist es „real“? Nein, es ist elitär

Am Abend der Ausstellungseröffnung wird Direktor Scherer von einer Besucherin konfrontiert, die sich nicht zurechtfindet. Er entgegnet höflich, man müsse nichts verstehen. „Man kann sich das auch einfach nur ansehen.“ Diese Haltung spiegelt die Auffassung des frühen Warburg Institute, ein wissenschaftlicher Kommentar würde den Bilderatlas vereinfachen und damit seine Bedeutung falsifizieren. Frühere Versuche wie die Ernst Gombrichs waren seinerzeit von Mitarbeiter*innen Warburgs scharf kritisiert worden. Dabei ist es ein uralter Fehler, aus Ehrfurcht vor einem komplexen Werk die Überschreitung desselben zu scheuen. Man hätte sich im HKW lieber der Kritik Theodor Adornos an Walter Benjamin erinnern sollen, dessen Passagenwerk häufig mit dem Bilderatlas verglichen wird. Es hätte nicht geschadet, so Adorno, wenn Benjamin mehr „durchartikuliert“ hätte.

Doch während die Kuratoren vielleicht einfach nicht vorgreifen wollten, wittert man beim HKW Programm. Trotz seines Selbstverständnisses als Schnittstelle zwischen Kunst, Kultur und Wissenschaft will es nicht vermitteln, sondern affizieren. Die Besucher*innen sollen und dürfen nichts lernen, sie werden Dingen einfach ausgesetzt. Das HKW denkt sicher, das wäre „real“, es ist aber vor allem auch sehr elitär. Und lässt eine Haltung aufscheinen, die voraussetzt, dass Nichtwissen sich selbst bedingungslos aushalten kann. Die Wahrheit ist, dass das eher diejenigen können, die es auf der Universität gelernt haben. Ein feiner, großer Unterschied – Pierre Bourdieu lässt grüßen.

Info

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne HKW, Berlin, noch bis zum 30. November

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