Echte Gaben gibt es nicht

Empörung Die Stiftung Lesen kooperiert mit Buchhandelskiller Amazon. Gehört sie deswegen jetzt zu den Bösen?
Ausgabe 32/2019

Als Schulanfänger muss man sich mühselig das Alphabet erschließen. Hat man erst mal gelernt, die ersten Wörter und Sätze zusammenzupuzzeln, ist man wahnsinnig stolz. Ganz besonders, wenn man dann endlich sein erstes eigenes Buch in den Händen hält. So ging es Ludwig Hoy, als er vor zwei Jahren zum Ende des ersten Schuljahres Die Schule der magischen Tiere geschenkt bekam. Ludwig ist heute neun. Nicht von Freunden oder seinen Eltern zum Geburtstag bekam er das Buch. Sondern von der Stiftung Lesen. In der Aktion „Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen“ stattete sie 2016 Schulen mit Lese-Sets für Grundschüler aus. Darunter auch die Rothenburg-Grundschule in Berlin-Steglitz, auf die Ludwig geht.

Die Stiftung Lesen, die in der Bundesrepublik seit 1988 die deutsche Lesekompetenz fördert, ist beliebt. Bei Eltern, weil sie ihren Kindern mit Buchgeschenken Freude macht. Bei Lehrern, weil sie ihnen gute Unterrichtsmaterialien kostenfrei zur Verfügung stellt. Bei den Erzieherinnen der Kindertagesstätten, weil die endlich mal wieder mit neuen Vorlesebüchern versorgt werden. Auf die Stiftung Lesen lassen sie nichts kommen.

Timeo Danaos

Zum Weltkindertag am 30. September wird die Stiftung eine Million Märchenbücher verschenken, die Kinder ans Lesen heranführen sollen. Das Buch soll Grimms Märchen in einfacher Sprache sowie fünf neue Märchen enthalten. Eine tolle Idee, könnte man denken. Aufmerksamkeit erregt hat sie aber nicht aufgrund von pädagogischer Vorbildlichkeit, sondern weil die Stiftung dafür mit Amazon kooperiert.

Der für seine Steuervermeidungs-Taktiken bekannte wie kritisierte Marktgigant sitzt seit kurzem im Stifterrat. Und die Bücher sollen in seinem eigenen Verlag Tinte & Feder erscheinen und dann nicht nur über Amazon vertrieben, sondern auch bei Thalia und Hugendubel verteilt werden. Dass es hier zunächst um Kundenbindung geht, ist klar. Beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels ist man empört. Man meint, die drei „Big Player“ hätten sich zusammengetan, um unter der moralischen Schirmherrschaft der Stiftung Lesen ihr Marktmonopol zu stärken.

Aber ist dem so? Die Stiftung Lesen trägt sich finanziell selbst, nur ihre einzelnen Projekte werden von externen Geldgebern mitfinanziert. Oft kommt die Finanzierung aus öffentlicher Hand, so wie bei „Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen“. Aber auch von anderen, der Deutschen Post, der Deutschen Bahn, der Wochenzeitung Die Zeit. Und nun eben von Amazon.

Gaben ohne Hintergedanken gibt es nicht, diese Einsicht gehört seit Jahrhunderten zu unserem Kulturgut. „Akte der Großmut sind nicht frei von Eigennutz“, schreibt der Anthropologe Marcel Mauss in seiner Studie Die Gabe (1925). Das uneigennützige Element des Schenkens sei nur eine „Fiktion“. Aber Mauss, der die Gabentradition aus archaischen Gesellschaften studierte, war überzeugt, dass diese „Fiktion“ eine moralische Funktion hat. Sie binde Menschen aneinander, erhalte soziale Beziehungen zwischen ihnen aufrecht.

Die Märchenbuch-Aktion, so lautet die Kritik, tut genau das nicht. Die einzige Beziehung, die da entstünde, sei eine ökonomische. Um Kinder zum Lesen zu bringen, muss man aber gerade auf soziale Bindungen setzen. Das übernehmen in der Regel Familie und Pädagogen. Was man nicht immer wahrnimmt, ist, dass Buchhändler daran auch stark beteiligt sind.

Wie Manfred Keiper. Er leitet eine der letzten unabhängigen Buchhandlungen, die „andere buchhandlung“ in der Hansestadt Rostock, wo dieses Jahr im Oktober auch der Deutsche Buchhandlungspreis vergeben wird. Keiper organisiert seit 17 Jahren einen Lesewettbewerb, daran nehmen jedes Jahr 5.000 Grundschüler teil. Die Finalisten gewinnen auch Bücher, aber das sei nicht das Wichtigste. Das Vorlesen vor vielen Leuten erfordere Mut und bilde Selbstbewusstsein aus, so Keiper. Es sind der Applaus, die Bewunderung von Freunden und Familie, die die Kinder motivieren. Mit den Gewinnern produziert Keiper außerdem ein Hörbuch, das werde auch öffentlich präsentiert. Der Stolz der Kinder sei dann grenzenlos, sagt er.

Keiper glaubt nicht, dass es Amazon wirklich um Leseförderung geht. Von der Aktion zum Weltkindertag hält er wenig. „Dieses Märchenbuch holen sich dann doch nur Schnäppchenjäger. Das wird doch nicht gelesen.“ Kindern einfach ein kostenloses Buch in die Hand zu drücken sei halbherzig. Man muss sich nachhaltig engagieren, um bei Kindern Interesse zu wecken. „Wenn man sie motiviert, dann werden sie selbst aktiv. Anders klappt das nicht. Leseförderung ist kein Automatismus.“

Tatsächlich beweist die Forschung, wie wichtig aktive Beteiligung des Kindes beim Lesen ist. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zeigte 2018, dass passives Hören für die Sprachentwicklung weniger tragend ist als Gespräche. Die Autorin der Studie, Rachel Romeo, betont, man könne Sprache und Geschichten nicht einfach bei Kindern abladen. Sie brauchen Austausch und Konversation.

Die Stiftung Lesen sei sich der Notwendigkeit des sozialen und interaktiven Aspekts beim Lesen und Vorlesen völlig bewusst, sagt Hauptgeschäftsführer Jörg F. Maas im Gespräch mit dem Freitag. Aber das sei nicht das einzige Problem, das man angehen müsse. „Es gibt drei große Defizite: Es fehlen Bücher, Lesevorbilder und Impulse.“ Die Märchenbuch-Aktion gehe eines dieser Defizite an, den Rest bearbeite man an anderer Stelle. „Man kann nicht alle Probleme in einem Schlag lösen.“

Ob die Maßnahme Erfolg haben wird, ist unklar. 2012 gab es schon mal eine ähnliche Aktion. Zum Welttag des Buches verschenkte die Stiftung in Kooperation mit Verlagen ebenfalls eine Million Bücher. Aber nicht eins pro Person, sondern 30. Zum Verschenken an Freunde und Bekannte, die selten oder nie lesen. „Damit sind wir leider gescheitert“, gibt Maas zu. Vielleicht klappt es ja diesmal.

Dass es der Stiftung Lesen mit der Leseförderung ernst ist, beweisen zahlreiche Projekte. Die Aktion „Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen“ zum Beispiel. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt will Erstleser wie Ludwig ansprechen. Das Kinderbuch Die Schule der magischen Tiere von Margit Auer (Illustration: Nina Dulleck), das von einer Schule erzählt, in der jedes Kind ein magisches Tier geschenkt bekommt, soll zum kooperativen Lesen anregen.

Das ist besonders für Leseanfänger wichtig, deren Lesekompetenz noch nicht auf dem gleichen Niveau liegt wie die Geschichten, für die sie sich interessieren. Bei jüngeren Kindern gleicht man das durch Vorlesen aus. Bei Neulesern reicht das nicht. Sie brauchen nicht nur spannende Geschichten. Sie müssen lernen, selbst zu lesen, ohne sich vom Frust über komplizierte Sätze und neue Wörter davon abbringen zu lassen.

Lernpaten helfen

Die Schule der magischen Tiere gibt Hilfestellungen, wie man diese Hürde zu zweit oder zu dritt locker nehmen kann, indem man gemeinsam laut liest. Am Rande der Geschichte sind Symbole, die kennzeichnen, ob der Leseanfänger oder der fortgeschrittene Leser liest, ob sie sich ein Bild gemeinsam erschließen oder einen Reim abwechselnd lesen.

So hat auch Ludwig lesen gelernt. Die von Montessori inspirierte Grundschule, auf die er geht, setzt auf kooperatives Lernen. Im offenen Unterricht (der sogenannten Freiarbeit) hat Ludwig Die Schule der magischen Tiere gelesen, zusammen mit zwei Lernpaten aus einer höheren Klasse. Die Lese-Symbole haben ihnen geholfen, ohne sie wäre es beschwerlich gewesen. Auch Eltern profitieren. Oft können sie nicht einschätzen, was ihre Kinder schon selbst lesen können.

Die Stiftung macht noch mehr. Sie richtet Leseclubs in Schulen ein. Das heißt, alte Schulbibliotheken mit zeitgemäßen Materialien auszustatten oder ganz neue Leseräume zu schaffen, inklusive bequemer Lesesessel. Davon gibt es mittlerweile 450 deutschlandweit. „Das soll eine entspannte Atmosphäre bieten, ohne Leistungsdruck“, erzählt Maas. Vor allem Pädagogen bräuchten Unterstützung. Die Betreuer der Leseclubs erhalten Weiterbildungen, Lehrer kostenlose Arbeitsblätter, und auch Kindertagesstätten kommen nicht zu kurz. Dieses Jahr zum Beispiel bekommen alle 50.000 Kitas in Deutschland sogenannte MINT-Lesebücher, die Kindern das Erleben von alltäglichen Naturphänomenen nahebringen und Erziehern bei der Vermittlung helfen sollen. Im Moment bereitet sie den bundesweiten Vorlesetag am 15. November vor – und sucht noch Freiwillige.

Nichtsdestotrotz bleibt die Frage im Raum, warum die sonst so umsichtige Stiftung eine Aktion ohne den unabhängigen Buchhandel macht. Buchhändler wie Keiper, die Leseförderung oft aus eigener Tasche finanzieren, hätten sich eine Einbindung in die Aktion gewünscht. „Einen Königsweg gibt es leider nicht“, sagt Maas. Man versuche jetzt aber, die Buchhändler noch mit an Bord zu holen. Eine späte Korrektur, aber besser als gar keine.

Cash und Kultur

Die Stiftung Lesen wurde 1988 ins Leben gerufen und hat ihren Sitz in Mainz. Ihr Schirmherr ist der jeweilige Bundespräsident. Ein bundesweiter Vorlesetag, immer im November, die Begleitung des UNESCO-Welttages des Buches am 23. April durch Aktionen und Veranstaltungen und das Leseförderprogramm „Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen“ gehören zu ihren Aktivitäten.

Diese Aktivitäten werden mit Mitteln, die die Mitglieder eines Stifterrats aufbringen, finanziert. Neben dem Branchenriesen Amazon sind unter anderen auch Aldi Süd, Super RTL und Microsoft Deutschland im Stifterrat vertreten. Aber auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, zahlreiche Bundesländer, die Deutsche Post AG und verschiedene Verlagsgruppen wie etwa Random House und Weltbild engagieren sich finanziell für die Stiftung.

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