Netflix löscht einen Tod

Serien Geht von Suiziddarstellungen eine Gefahr der Nachahmung aus?
Ausgabe 30/2019

Nach jahrelangen Debatten hat sich Netflix entschieden, die Suizid-Szene aus der preisgekrönten Serie Tote Mädchen lügen nicht nachträglich zu löschen. Die Folge aus der ersten Staffel ist jetzt nur noch gekürzt abrufbar. Das ist ein Fehler. Es geht um den Schutz selbstmordgefährdeter Zuschauer, denn unter PsychologInnen gilt, dass von Suiziddarstellungen Ansteckungsgefahr ausgeht: der sogenannte Werther-Effekt. Aber lastet die volle Verantwortung dafür auf der drei Minuten dauernden Szene, in der sich die Hauptfigur das Leben nimmt?

In Wirklichkeit hat die Szene die Serie gerettet. Tote Mädchen lügen nicht ist ein heikles Format, doch ihr größter Fehler besteht nicht darin, einen Selbstmord zu zeigen. Sondern zu suggerieren, dass das Erzählen einer großartigen Geschichte durch eine Frau ihren Tod voraussetzt. Die Hauptfigur Hannah Baker spricht ihre Geschichte nämlich auf Band und lässt sie den Personen zukommen, die sie für schuldig oder verantwortlich hält. Dieses Vermächtnis macht sie zur narrativen Über-Instanz, sodass sie das Unmögliche zu schaffen scheint: Sie ist Anklägerin und Entertainerin zugleich. Kommt zu ihrem Recht und genießt die Aufmerksamkeit, die ihr als Lebende nicht vergönnt war. Eine geniale Lösung!

Diese absurde Glorifizierung der toten Erzählerin wird erst mit der schrecklichen Darstellung ihres Todes gebrochen. Ohne ihn ist die Serie zu schön. Zu einfach. Zu nostalgisch. Ihre Ästhetik besteht aus einer verzerrten Collage: Bilder der 80er und 90er, die heute wieder Inbegriff von Coolness sind. Sie zitiert eine Zeit, in der man Kassetten hört, Ford Mustangs fährt wie Michael Douglas in Basic Instinct (1991) und Lederjacken trägt wie Emilio Estevez in Die Outsider (1983). Der Retro-Stil kippt erst, als sich Hannah in einer vollen Badewanne die Pulsadern aufschneidet. In dem Moment, in dem man die kluge, charmante und witzige junge Frau wirklich sterben sieht, versteht man erst wirklich, was hier erzählt wird. In der sonst so kurzweiligen Serie dauern diese drei Minuten eine Ewigkeit. Hier begreift, nein, fühlt man, wie einsam sie ist. Wie sehr sie eine Gemeinschaft gebraucht hätte. Nun wird man sagen: Diese Einsicht gibt es doch in jeder Highschool-Geschichte! Weil die Schule ein genauso paradoxer Ort ist wie die Großstadt: Sie ist voller Menschen, und trotzdem ist man allein. Das stimmt. Aber man tendiert dazu, Einsamkeit in der Schule zu banalisieren. Die Selbstmordszene hilft dabei, ihren Ernst zu erfassen. Wozu dient letztlich Gemeinschaft?, fragte der französische Philosoph Maurice Blanchot. „Zu nichts, wenn nicht dazu, den Dienst am Anderen bis in den Tod hinein gegenwärtig zu halten, damit der Andere nicht einsam zugrunde geht.“

Nicht zuletzt nimmt Tote Mädchen lügen nicht ohne diese Szene an einer langen Tradition femininer Nekroästhetik teil, die das Suizid-Problem verschleiert, statt es zu lösen. Das Gleiche ist mit Ophelia aus Shakespeares Hamlet passiert. Weil ihr Selbstmord im Stück nicht gezeigt wird, konnte er in der Folge frei ästhetisiert, und damit nicht nur verharmlost, sondern gerade Gegenstand des Begehrens und der Bewunderung werden. John Everett Millais’ berühmtes Porträt der ertränkten Ophelia im Fluss ist heute noch Ikone jungfräulicher Schönheit, weil Shakespeare uns den Schrecken ihres tatsächlichen Todes erspart hat. Die tote Hannah Baker in der Badewanne hat diesen irrsinnigen Fetisch kurzzeitig aufheben können. Ab jetzt leider wieder „business as usual“.

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