Der Freitag: Warum war Polen das erste Land im Ostblock, in dem es bereits mit den Wahlen vom Juni 1989 eine friedliche Wende gab?
Tadeusz Mazowiecki: Bei uns existierte seit 1980 ununterbrochen eine breite Bewegung in der Gesellschaft. Sie vertrat nicht nur das Gros der Bevölkerung, sondern nahm gegen Ende der achtziger Jahre noch zu. Die Regierung ihrerseits musste einsehen, dass die ökonomische Lage hoffnungslos und ohne Mitwirkung der Gesellschaft nicht zu überwinden war. Und dann gab es noch einen anderen wichtigen Faktor, den man nicht unterschätzen darf: Die Katholische Kirche war die Vermittlerin, ihre Vertreter saßen mit am Runden Tisch. Alle diese Faktoren haben zur Wende beigetragen.
Höhepunkt des Jahres '89 war die Bildung Ihrer Regierung, des ersten
Höhepunkt des Jahres '89 war die Bildung Ihrer Regierung, des ersten nicht-kommunistischen Kabinetts. Was haben Sie gefühlt im Moment des Schwurs – Stolz oder eher Last der Verantwortung?Da bin ich zusammengebrochen. Nicht wegen der Emotionen, sondern vor Müdigkeit. Ich hatte sehr lange am Programm gearbeitet, zu viel Kaffee getrunken und zu viel Zigaretten geraucht. Ich musste um eine Pause bitten und räumte danach ein, mich selbst in den Zustand gebracht zu haben, in dem sich Wirtschaft Polens befinde. Es sei meine Hoffnung, die werde sich so schnell erholen, wie ich mich erholt hätte. Selbstredend habe ich damals eine riesige Verantwortung gespürt, die mein ganzes Kabinett übernehmen sollte.Nach 20 Jahren erinnern sich viele Menschen sentimental an die Zeit vor der Wende. Es habe keine Arbeitslosigkeit gegeben, keine Armut, keine Wirtschaftsunterschiede.Sicher, Demokratie und Marktwirtschaft sind – im Unterschied zu Kommunismus und Planwirtschaft – ein System, das keine absolute Glückseligkeit verspricht, und das man ständig korrigieren muss. Das System hat viele Schwächen. Aber zugleich darf man nicht vergessen, dass wir Freiheit haben, dass Polen unabhängig ist. Dass wir uns ökonomisch entwickeln und nicht eingeklemmt in Hoffnungslosigkeit feststecken wie zu Zeiten der Planwirtschaft.Neben ökonomischen Sorgen sehen die Menschen die zermürbenden politischen Konflikte. Und das nicht zuletzt unter den früheren Helden der Solidarnosc. Sogar im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 4. Juni, an dem sich die erste demokratische Wahl zum 20. Mal jährte, waren sie nicht zu vermeiden.Diese Streitereien finde ich unnötig und denke, die Polen empfinden genauso. Man muss dabei in Betracht ziehen, Solidarnosc war eine große Gewerkschaft, aber auch eine politische Bewegung mit einem Spektrum von links bis rechts. Es war klar, sie würde sich teilen, sobald es mit dem Aufbau von Parteistrukturen losgeht. Meiner Meinung nach hätte das in einem anderen Still passieren können, als es stattgefunden hat.Heute heißt es, Solidarnosc habe verloren. Mit anderen Menschen und der richtigen Strategie hätte man seinerzeit mehr erreichen können. Das lässt sich immer sagen. Es gilt eine einfache Regel – diejenigen, die sich 1988/89 an Verhandlungen nicht beteiligt haben, behaupten immer, man hätte sie besser führen können. Meiner Meinung nach haben wir damals sehr viel erreicht. Der Weg zur Machtübernahme wurde vorbereitet. Polen war das erste Land im Ostblock, das soweit war und den friedlichen Weg nie verlassen hat. Das war ein Schub für andere Staaten im Osten. Die von Ihnen zitierten Vorwürfe finde ich grundlos und ahistorisch, sie berücksichtigen nicht die damalige Realität.Wie sehen Sie Solidarnosc heute?Die heutige Solidarnosc hat mit der damaligen nichts zu tun. Heute ist sie eine von vielen Gewerkschaften, dazu eine mit forderndem Charakter. Geblieben ist aus dieser Zeit ein Gefühl des Freiheitskampfes, das Teil unserer Tradition, unserer Geschichte und Identität wurde. Dieses Gefühl sollte zu einem besseren Stil in der Politik führen.Im europäischen Bewusstsein werden die 89er-Ereignisse in Polen häufig vom Berliner Mauerfall verdrängt – zu Unrecht?Der Mauerfall ist ein visueller Fakt, der vieles klarer zeigt, als das mehrere Monate Debatten am Runden Tisch vermögen. Anderseits haben wir Polen auch nicht genug Informationen über diese historische Tatsache verbreitet. Jetzt, glaube ich, es ergibt es keinen Sinn, sich auf den Kampf um Symbole zu konzentrieren. Es ist besser, die historische Wahrheit zu zeigen. Der Mauerfall war ein sehr wichtiger Moment, aber er ist nicht einfach so passiert. Er folgte den Ereignissen in Polen. Und ich denke, jeder, der sich fragt, woher der Mauerfall kam, stößt auf Polen. Ein guter Beobachter kommt von selbst dorthin.Das Gespräch führte Agnieszka Hreczuk