"Es lebe Perón!"

Argentinien Nach seiner Freilassung im Oktober 1945 erfuhr der spätere Präsident Argentiniens eine beispiellose Welle der Unterstützung aus der Bevölkerung

Alle Erinnerungen täuschen, verschleiern auf irgendeine Art und Weise. Selbst diese gemeinsame Erinnerung, die wir Geschichte nennen, bewahrt uns vor dem Unerreichbaren: vor der Wahrheit, die – so sagt der Dichter – sicherlich unerbittlich sein muss. Auf der anderen Seite schützt uns das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit unserer persönlichen Erfahrungen vor dem Wahnsinn.

In dieser Bar, wie in jeder anderen jetzt oder in der Zukunft, hier oder wo es euch beliebt, regiert die Anonymität der Nacht und wir alle sind unerschüttliche Dichter auf der Suche nach Worten, mit denen wir der weitschweifigen Realität ein Stückchen Wahrheit entlocken und entreißen möchten. Mein Ellbogen ruht auf dem Tresen und meine Fingerkuppen erwarten schon die Kühle des Glases, die Ruhe, die vom Alkohol ausgeht, lässt mich die Beklemmung, mich immer außerhalb des mich umgebenden Geschehen zu befinden, vergessen. Alle Gedanken, die ich auf Papier oder in meiner Erinnerung aufzeichne, verstümmeln zunehmend und es scheint, dass ich nur das zu sagen vermag, was mir die Zeit in ihrer Fülle zu besitzen erlaubt. Alles hat sich an diesem 17. Oktober 1945 vollständig und unwiderruflich verändert.

Die Stadt hat sich für immer verwandelt. Tausende von Personen sind aus dem Nichts hervorgekommen, Unsichtbare, die plötzlich unser Aussehen erneuert haben. Ich würde gerne alles mit einem einzigen Wort sagen können, dichtend sprechen können, treffend und unbesiegbar wie eine Kugel, aber es erweist sich als unmöglich, einen Begriff zu finden, der annähernd das Gefühl erfasst, so viele Menschen auf diesem nächtlichen Platz vereinigt zu sehen, unbekümmert über ihre Gerüche und ihre Akzente, und die einem Militär zuschauen, der den Armen die Zukunft verspricht, und sagt, dass jene, die nie gehört wurden, ab heute das Echo seiner Stimme sein werden. Diesem naiven Traum der zahnlos Lächelnden, die an der plebejischen Invasion teilnahmen, würde ich gerne einen Namen geben. Ich würde gerne die Bedeutung des Kampfes, der bevorsteht und der gewesen ist, in einem Satz verdichten. Aber es gibt kein Wort, das von der Vergangenheit und der Zukunft spricht, von der Geschichte und den Kosten der Gleichheit, von der Freude und dem Martyrium der Generationen, die vergehen werden. Es gibt kein Wort, das gleichzeitig Leben und Tod bedeutet.

Die Besucher des Kabaretts scheinen verwirrt und verängstigt, während jene, die hier arbeiten, fröhlich von abstrakten Dingen wie Klassen vor sich hin murmeln. Ich nähere mich der freundlichen Person hinter dem Tresen; ich nehme einen Schluck, atme durch, schaue ihm in seine glänzenden und vergnügt dreinblickenden Augen und beende daraufhin meine Erkundung. In dem Moment, in dem ich meinen Mund zum ersten Mal öffne, türmen sich die konfusen Ideen vor mir auf:

- Es lebe Perón! rufe ich ihm zu.

- Er lebe! antwortet er mir freudig.

Übersetzung: Marcela Knapp

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