Warum der Einfluss der russischen Propaganda auf die Querdenkerbewegung überschaubar ist

Theorie des Milieukampfes Gesellschaftliche Strukturen verhindern eine Vereinnahmung.

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Die deutsche Gesellschaft zeigt sich auch im Jahre 2022 konfliktbereit und hochgradig polarisiert. Manche reden sogar von einer Spaltung, doch ist dem wirklich der Fall und was würde das letztendlich in Zeiten eines unmenschlichen Krieges bedeuten? Ist vielleicht eine Hälfte, hier ist im Besonderen an die Querdenker zu denken, besonders anfällig für russische Propaganda? Haben Putins Influencer und kremlnahe Medien hier leichtes Spiel?

Um sich näher mit dieser Frage beschäftigen zu können, sei vorab die Frage gestellt, wie sich die Querdenkerbewegung zusammensetzt. Handelt es sich um eine homogene Masse, die vielleicht einer politischen Richtung zuzuordnen ist? Doch bereits hier gilt es zu beruhigen, denn, nein, eine solche stellen sie nicht dar, auch, wenn oberflächliche Analysen dieses unter Umständen nahelegen oder gar suggerieren. Und doch gibt es immer wieder derartige Annahmen, auch wenn sie nicht die Wirklichkeit abbilden.

Das Problem dabei ist, dass sie in der Regel auf einem veralteten Gesellschaftsbild beruhen, das oft noch immer von Klassentheorien und dem obsoleten Links-Rechts-Schema dominiert wird. Dieses ist allerdings nicht mehr in der Lage die gesellschaftlichen Dynamiken des 21. Jahrhunderts abzubilden und verleitet damit zu Fehleinschätzungen. Um sich den realen Gegebenheiten aber zumindest anzunähern, ist es unabdingbar neue Erklärungsmuster zu finden und diese auch anzuwenden.

Eines davon ist die Deutungsmöglichkeiten von sozialen Konflikten innerhalb einer Gesellschaft als Milieukonflikte, die sich zu Milieukämpfen entwickeln.

Der Grundgedanke dieser Theorie beruht auf der Annahme, dass die Gesellschaft, durch verschiedene Einflüsse wie den Verhaltenskapitalismus, die Entwicklung des Homo stimulus, radikale Individualisierungstendenzen oder den Zeitenwandel, in immer kleinere Lebenswirklichkeiten, auch soziale Milieus genannt, zerfällt. Diese definieren sich am Ende dadurch, dass diejenigen, die ihnen angehören spezifische Weltansichten, Verhaltensmuster, Normen, Werte oder Vorstellungen von einem guten Leben teilen. Teilweise haben diese Lebenswirklichkeiten nicht mehr viel gemeinsam. Manche Milieus schotten sich dabei ab, andere sind beinahe missionarisch tätig.

Das bekannteste Milieumodell ist dabei das des Sinus-Institutes, das folgende Lebenswirklichkeiten thematisiert:

  • Konservativ-Gehobenes Milieu (11%)
  • Postmaterielles Milieu (12%)
  • Milieu der Performer (10%)
  • Expeditives Milieu (10%)
  • Neo-Ökologisches Milieu (8%)
  • Adaptiv-Pragmatische Mitte (12%)
  • Konsum-Hedonistisches Milieu (8%)
  • Prekäres Milieu (9%)
  • Nostalgisch-Bürgerliches Milieu (11%)
  • Traditionelles Milieu (10%)

Es versteht sich von selbst, dass das Konfliktpotential hoch ist, wenn unterschiedliche Ansichten aufeinanderprallen.

Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen lassen sich unter dem Begriff des Milieukampfes zusammenfassen. Das bedeutet, dass sich zwischen den Lebenswirklichkeiten (Milieus) einer Gesellschaft, Herausforderungspotentiale ergeben, die aktiv oder passiv angegangen werden. Dem Milieukampf gehen dabei stets Milieukonflikte voraus. Hierfür gibt es in der Regel zwei Ursachen:

  • Fehlende Befriedigung von Bedürfnissen der Personen, welcher dieser Lebenswirklichkeit zugeordnet werden
  • Wahrgenommene Attacken auf das Selbstverständnis (z. B. Selbstbestimmung, Identität usw..) der Lebenswirklichkeit

Nun hat nicht jede Lebenswirklichkeit die Möglichkeit, die Ursachen der Konflikte zu beseitigen oder auch nur angemessen zu artikulieren. Die Stimmen der Prekären oder der Hedonisten sind beispielsweise viel leiser zu hören als die des neo-ökologischen Milieus und so schwelt manche Unzufriedenheit jahrelang vor sich hin.

Ein gefährlicher Zustand, denn gelegentlich entlädt sich diese dann oft an dem berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das kann ein beliebiges Thema sein, dessen Beseitigung selten die eigentliche Konflikte tangiert. Leider erhöht dies selbstredend die Anfälligkeit für Demagogie aller Art; allerdings selten langfristig. Ein typisches Beispiel dafür ist die Wahl von Donald Trump 2016. Dem ehemaligen US-Präsidenten gelang die Entladung zahlreicher Konflikte in der amerikanischen Gesellschaft für sich – und das ist der zentrale Punkt – milieu-übergreifend zu bündeln und war damit erfolgreich.

Doch zurück zur spezifisch deutschen Situation und konkret zum Gedanken, dass sich die Corona-Kritiker, die nach allen Untersuchungen aus unterschiedlichsten Milieus stammen, keine homogene Masse darstellen und daher lediglich eine sogenannte Milieukoalition bilden, anfällig für russische Propaganda wären.

Das dürfte insgesamt zu verneinen sein, denn eine Milieukoalition besteht in der Regel nur aus einem oder wenigen Konflikten, der verschiedene Milieus ähnlich, wenngleich auch nicht unbedingt gleich, belastet.

Nur dann finden sich Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, die sich ansonsten wenig zu sagen hätten, zusammen und ohne diese Basis zerbricht die Milieukoalition auch wieder. So sehr sich manche Demagogen in der russischen Frage auch bemühen werden, wird diese Verschiebung des Narrativ nicht gelingen und sie gelingt auch nachweislich nicht. Die breite Masse der Querdenker kann nicht für dieses Thema gekapert werden, da es keine Basis im Sinne eines Milieukonflikts dafür gibt. In manchen Lebenswirklichkeiten wie dem konservativ-gehobenen Milieu nicht einmal im Ansatz. Es gehört schlicht nicht zu ihrer Erzählung, demnach gibt es auch kaum ein Aktivierungspotential.

Könnte es einer geschickten Propaganda und Desinformation aber zumindest gelingen, dass sich versteckte und unterdrückte Konflikte in ihrem Sinne entladen? Auch danach sieht es – auf weitem Feld, nicht bei einzelnen Personen und Kleingruppen - nicht aus, denn viele gesellschaftliche Zeitbomben konnte sich bereits an Themen wie der Euro-Rettung, Freihandelsabkommen, Flüchtlingsproblematik, der Klimakrise, Politikverdrossenheit, Inflation oder Covid-19 entzünden und werden es auch weiter tun, während parallel die Gesellschaft immer weiter zersplittern und den Weg in einen kollektiven Individualismus gehen wird.

Andreas Herteus ist der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft, einer unabhängigen Einrichtung für Zeitfragen. Die Theorie des Milieukampfes hat er, mit anderen Grundzügen des 21. Jahrhundertes in seinem Buch "Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklungen im 21. Jahrhundert: Neue Erklärungsansätze zum Verständnis eines komplexen Zeitalters" zusammengefasst.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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EvW

Andreas Herteux ist der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft, einer unabhängigen Einrichtung, die sich mit den Themen der Zeit beschäftigt.

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