Zeitalter des kollektiven Individualismus

Eine neue Epoche beginnt. Wie Verhaltenskapitalismus und Reizgesellschaft den Homo stimulus schufen und ein neues Zeitalter einleiten

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In der Geschichte der Menschheit gab es zahlreiche Wendepunkte und Eintritte in neue Epochen und Zeitalter. Oft waren die Übergänge dabei schleichend, wurden nicht als solche wahrgenommen und erst in der Nachbetrachtung als neue Ära erkannt.

Genau dieses geschieht im Moment wieder. Wir stehen vor dem Eintritt in ein neues Zeitalter: Das des kollektiven Individualismus.

Doch was ist dieser kollektive Individualismus? Beginnen wir langsam und von vorn.

Schlüsselelement Verhaltenskapitalismus

Ein Schlüsselelement für das Verständnis dieser aufziehenden Epoche ist der Verhaltenskapitalismus, jene neue Spielart des freien Wirtschaftens, der das menschliche Verhalten zu einem Produktionsfaktor gemacht hat.

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Schlüsselelement Reizgesellschaft

Es macht allerdings wenig Sinn, sich nur mit dem Verhaltenskapitalismus zu beschäftigen, denn er steht in einem Kontext und ist nur ein Teilstück der neuen Ära. Die Mechanismen des Verhaltenskapitalismus sind ein Produkt des technologischen Fortschrittes, können aber nur durch die Entwicklung der sogenannten Reizgesellschaft ihre volle Wirkung entfalten. Also noch ein neuer Begriff? Er ist einfach zu erläutern. Die Reizgesellschaft definiert sich folgendermaßen:

„Unter einer Reizgesellschaft versteht man ganz allgemein einen Zusammenschluss von Individuen, der in starker Frequenz beeinflussenden, in der Regel künstlich erzeugten, Reizen ausgesetzt ist und sich diesen nur schwer oder nicht entziehen kann bzw. zum Teil auch nicht möchte.“

Was auf den ersten Blick kompliziert klingen mag, beschreibt schlicht eine gesellschaftliche Entwicklung seit dem Ende des 2. Weltkrieges, die immer mehr mit Reizen, worunter man einen Stimulus versteht, der ein Verhalten durch die Einwirkung auf ein Sinnesorgan auslöst oder verändert, versteht, konfrontiert wird.

Vereinfacht gesagt war ein Mensch, der in den USA oder Westdeutschland in den 50er gelebt hat, sehr viel weniger Stimuli aus den Bereichen Unterhaltung, Politik, Wirtschaft oder ganz einfach nur Werbung ausgesetzt, als eine Person im 21. Jahrhundert. Was gab es damals schon? Die Zeitung? Die ließen sich weglegen. Das Radio ausdrehen. Das Fernsehen? War noch nicht etabliert und bot bestenfalls stundenweise ein Programm auf wenigen Sendern. Filme sah man in den Kinos und sie waren in der Regel langsam geschnitten und nicht allzu hektisch. Reklame auf den Straßen? Nun, sie hielt sich in Grenzen und zu Hause wurde man kaum belästigt. Von der Politik wollen wir gar nicht erst reden.

Das sollte sich in den folgenden Jahrzehnten grundlegend ändern. Die Beeinflussung durch Stimuli nahm zu, wobei die Entwicklung neuer Marketing-Konzepte, die sich mit wissenschaftlichen Konzepten wie z.B. dem Behaviorismus verbanden, dabei natürlich eine zentrale Rolle spielten. Angewandt haben sie alle: Die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Politik.

Eine symbiotische Entwicklung

Es wäre nun aber zu einfach von einer einfachen Reiz-Bombardierung zu sprechen, denn die Menschen gewöhnten sich außerordentlich schnell an die Stimuli und forderten sie auch ein. Das Fernsehen setzte sich durch. Die schöne neue Konsum- und Werbewelt – niemand musste die Tore einschlagen, denn sie wurden mit Freuden geöffnet.

Es war eine sich gegenseitig befruchtende Symbiose und keinesfalls eine reine Manipulation. Das Angebot hätte ohne Nachfrage keinen solchen Erfolg gehabt, wenngleich sich auch argumentieren lässt, dass die Reize fortan von Geburt an ihre Wirkung entfalten und ein anderes Leben nur noch schwer denkbar war. An diesem Punkt lässt sich aber diskutieren.

Zu welchem Schluss auch immer man am Ende kommen mag, bleibt es eine Wahrheit, dass sich die Reizgesellschaft entwickelte und sich immer mehr intensivierte.

Heute sind die Reize für viele im Alltag, sei es in der Umgebung oder nur am Display des Smartphones, immer präsent, teilweise sogar gewünscht und selbst die Enthaltsamsten würden mit der Stille der 50er Jahre vermutlich ihre Schwierigkeiten haben, denn sie wurden längst zu neuen Menschen transformiert.

Der Homo stiumulus

Diesen neuen Menschen bezeichnen wir als Homo stimulus, den Reizmenschen. Ihn zu kennen und zu verstehen ist ein weiterer Schlüssel zum Verständnis einer neuen Zeit.

Ohne diesen Homo stimuli würde der Verhaltenskapitalismus nicht funktionieren, man denke nur daran, wie sich unser 50er-Jahre-Mensch in einer Welt mit so vielen Reizen fühlen und verhalten würde, wenngleich es sich bei Reizgesellschaft und Verhaltenskapitalismus um sich beeinflussende und teilweise bedingende Entwicklungen handelt.

Kollektiver Individualismus

In Kombination haben diese beiden Prozesse das Zeitalter des kollektiven Individualismus eingeleitet. Doch wie definiert sich dieses?

„Unter einem kollektiven Individualismus wird ein Individualismus verstanden, bei dem das Individuum so eingebettet wird, dass die individuelle Selbstentfaltung innerhalb eines nicht oder kaum sichtbaren Rahmens erfolgen kann.“

Auch das klingt, wesentlich komplizierter, als es ist. Denken wir an den Kreislauf des Verhaltenskapitalismus, der das Verhaltens des Homo stimulus abschöpft und damit versucht, seine Bedürfnisse in Erfahrung zu bringen, sie zu stillen und für die Zukunft zu prognostizieren. Der Homo stimulus wird so Stück für Stück in eine eigene, individualisierte Welt eingebettet.

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Greifen wir das beliebte Beispiel des Menschen auf, der in irgendeiner Stadt in einer Mietwohnung lebt und außer seiner Arbeit keine sozialen Kontakte besitzt. Mit Hilfe der neuen Technologien greift er von zu Hause auf Suchmaschinen und soziale Medien zu. Nehmen wir an, er interessiert sich für das Ski fahren. Er recherchiert danach und immer mehr schlägt in der Algorithmen Freunde, Gruppen, Produkte und Nachrichten rund um dieses Thema vor. Der Homo stimulus setzte einen Reiz für die Maschine und diese gab mannigfaltige zurück, nachdem sie diesen analysiert hatte. Er klickt sie an, lernt Gleichgesinnte kennen, besorgt sich die benötigte Ausrüstung und fährt wenig später erstmals auch in der Wirklichkeit Ski. Wir kennen diese und ähnliche Geschichten.

Einbettung des Individuums

Jeder Klick und jede Reaktion animieren den Algorithmus dazu, weitere relevante Beiträge zu liefen. Die Homo stimuli reagieren und alles wird tiefer und tiefer. Ein Strudel und ein Kreislauf entstehen. Der Homo stimulus wird eingebettet, taucht, in unserem Beispiel, in die Welt des Ski-Sportes ein und ist damit glücklich und zufrieden. Er lebt im Zeitalter des kollektiven Individualismus, in dem die Bedürfnisse des Einzelnen individuell durch Verhaltensabschöpfung und Reizsetzung ermittelt, und, nach kollektiven Regeln, die das Individuum allerdings nicht oder kaum bemerkt, befriedigt werden. Die Reizgesellschaft und der Verhaltenskapitalismus haben ihn ermöglicht.

Mit diesem Satz löst sich auch der scheinbare Widerspruch im Begriff des kollektiven Individualismus auf. Ja, es handelt sich um maximale Bedürfniserfüllung des Einzelnen. Ja, es entsteht vielleicht sogar eine einzigartige Welt, in welcher das Individuum der König ist und doch geschieht dieses alles nach Regeln und für alle auf gleiche Art und Weise. Die Grenzen verwischen und werden nicht mehr gesehen.

Die Zeichen des kollektiven Individualismus lassen sich daher bereits erkennen, obwohl wir sicher erst am Anfang einer technologischen Entwicklung stehen.

Eine neue Epoche hat begonnen

Doch wohin könnte das alles führen? Das ist einfach zu beantworten. Das Zeitalter des kollektiven Individualismus sollte in der totalen Individualisierung münden, wenn die Entwicklung nicht von Milieukämpfen und Verteilungsfragen gehemmt werden wird. Diese beiden Faktoren werden aber weiterhin eine große Rolle spielen und die totale Individualisierung auf irgendeinen Zeitpunkt in der Zukunft verschieben. Am Epochenübergang ändert dies allerdings nichts und ein großer Fehler wäre es nun, den Prozess der Einbettung als entweder vollumfänglich oder als „nicht vorhanden“ zu betrachten. Das wäre ein Denken in Extremen. Es ist durchaus möglich mehrere Leben zugleich zu führen. Hybride Leben, die bei denen viele Bedürfnisse in der Einbettung befriedigt werden, und ein Leben außerhalb werden Hand in Hand gehen. Wie viele Menschen kennen Sie, die ganz regulär zur Arbeit gehen und das restliche Leben wird von der Einbettung durch das Smartphone bestimmt? Das kann ihnen nicht passieren? Mag sein, allerdings sind Epochen etwas länger und der nächste Geburtsjahrgang wird nichts anderes kennen. Für den Moment mag aber gelten: manche Milieus tauchen tiefer ein, manche weniger, doch keiner kann sich den neuen Technologien vollständig entziehen.

Ein weiterer fataler Fehler wäre es, die Einbettung als ausschließlich sozial isolierend zu betrachten. Es ist zwar durchaus möglich, dass die Bedeutung von Menschen schwinden wird, da viele Bedürfnisse auch von Maschinen befriedigt werden können, aber einerseits würde dieses nicht so wahrgenommen werden und andererseits kann die Einbettung auch dazu beitragen, Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenzubringen, die sich sonst nie gefunden hätten.

Wir werden daher zu Lebzeiten keinen reinen kollektiven Individualismus erleben, aber welches theoretische Konstrukt existierte in der Realität schon in seiner Reinform? Die Wirklichkeit ist, um es ein wenig – und sehr frei interpretiert - mit Platon zu sagen, immer eine unscharfe Kopie des Ideals. Solange daher die menschlichen Bedürfnisse noch nicht vollständig innerhalb der persönlichen Einbettung erfüllt werden können, ist daher von einem unvollständigen kollektiven Individualismus auszugehen.

Eine vollständige Einbettung kann nur dann gelingen, wenn alle Bedürfnisse innerhalb dieser erfüllt werden kann. Dieses kann nicht geschehen, solange es noch Milieukämpfe gibt, denn sie hemmen die totale Individualisierung. Selbst, wenn diese beendet wären, bleibt es fraglich, ob alle Menschen einen (globalen) vollkommenen kollektiven Individualismus erleben werden, denn sie würde die Beendigung von Verteilungsproblemen voraussetzen.

Einem unvollkommenen werden sie allerdings in Zukunft immer wenige rausweichen können und vermutlich irgendwann, aufgrund der fortschreitenden technologischen Entwicklung, auch nicht mehr ausweichen wollen.

Ein Grund mehr über den kollektiven Individualismus und seine Bestandteile, den Verhaltenskapitalismus und die Reizgesellschaft umfangreich zu reden. Das neue Zeitalter hat bereits begonnen. Es liegt an uns, dieses auch zu gestalten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

EvW

Andreas Herteux ist der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft, einer unabhängigen Einrichtung, die sich mit den Themen der Zeit beschäftigt.

EvW

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