Sollte die Polizei durchgreifen?

Corona-Demos Gegen die Leugner*innen müssen Staat und Gesellschaft vorgehen, aber nicht durch besonders markiges Auftreten der Exekutive
Ausgabe 48/2020

Mich erschüttern die sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen in Berlin, Leipzig, Stuttgart und an immer mehr Orten – als Risikopatientin, als Journalistin, als Woman of Colour. Ein Teil der sogenannten Mitte scheint sich dort längst vom öffentlichen Diskurs abgekoppelt zu haben. Er hat sich davon verabschiedet, dass alle, auch Menschen mit vermeintlichen „Vorerkrankungen“, ein Recht auf Leben haben. Und er hat anscheinend kein Problem damit, sich mit offensichtlich Rechtsradikalen, sogar mit polizeibekannten Gewalttäter*innen, zu verbünden.

Doch ebenso schockierend ist die Folgenlosigkeit für den Verstoß gegen Corona-Auflagen, für Hass, Shoah-Leugnung, NS-Verharmlosung und Gewalt. „Wir wollen diese Bilder nicht“, ließ sich die Polizei nach einer Demonstration kürzlich in Berlin zitieren, als eine Spiegel-Journalistin nachfragte, warum die Protestierenden einfach so eine Polizeikette durchbrechen dürften. Für Linke, Klimaaktivist*innen und so viele andere, die regelmäßig erleben müssen, wie die Polizei mit überzogener Gewalt Demonstrationen schon bei kleinsten Vergehen Einzelner auflöst, klingt ein solcher Satz wie Hohn. Jetzt, wo es gegen eine Mischung aus Eso-Bürgertum und Rechtsextremen ginge, die demokratische Grundwerte infrage stellt, will man plötzlich „diese Bilder“ nicht?

Was auf diesen Veranstaltungen passiert, ist die Verächtlichmachung aller Werte, für die eine aufgeklärte Gesellschaft stehen sollte. Hand in Hand schaukeln sich einstige Otto Normalbürger*innen, Esoteriker*innen, Verschwörungsideolog*innen und Rechtsradikale in Wahnvorstellungen hinein. Und nehmen dabei eine schwere Erkrankung vieler Mitmenschen, ja, sogar deren Tod, mindestens billigend in Kauf. Immer öfter eskaliert die Gewalt: Für Journalist*innen ist es gefährlich, von den Demonstrationen zu berichten, auch Polizeikräfte werden Ziel der Gewalt, sie werden bespuckt und geschlagen.

Die Frage ist: Lassen wir uns das gefallen, als Gesellschaft? Als die über zwei Drittel der Bevölkerung, die die harten, aber auch leider notwendigen Maßnahmen billigen? Und wenn nicht – was folgt daraus? Eine Einschränkung des Versammlungsrechts? Mehr Knüppel, mehr Wasserwerfer?

Nein, das Demonstrationsrecht ist unbedingt zu schützen, auch und gerade inmitten einer Pandemie, und Polizeigewalt bleibt auch noch falsch, wenn sie den politischen Gegner trifft. Doch dass es überhaupt zu diesem Punkt kommt, ist der eigentliche Skandal. In dem Moment, in dem Polizist*innen Gewalt anwenden müssen, ist schon zuvor etwas falsch gelaufen.

Der Staat und die Gesellschaft, der er dient, müssen schon viel früher Härte zeigen, doch eine andere Härte als das ewig gleiche maskuline Auftreten von Polizist*innen im Robocop-Kostüm. Denn in einer aufgeklärten Gesellschaft bleibt das Ziel weiterhin die Abschaffung der Polizei. Schließlich ist es ihre fundamentale Funktion, die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten aufrechtzuerhalten, die das kapitalistische System zum Überleben braucht.

Nun ist die Lage in Deutschland eine ganz andere als etwa in den USA, doch die grundlegende Forderung der „Abolish the Police“-Bewegung, nämlich das Budget für Sicherheitskräfte umzuverteilen und in Sozialmaßnahmen zu investieren, sollten wir auch hierzulande beherzigen. Angemessene „Härte“ wäre dabei nicht das markige Auftreten der Exekutive, sondern radikale Fürsorge, die den Corona-Leugner*innen den Resonanzraum entzieht. Und eine Entschlossenheit, die sich nicht in Wasserwerfern zeigt, sondern in Unterstützung der Zivilgesellschaft, sich den vermeintlichen „Querdenkern“ entgegenzustellen.

Denn gegen Covid-19 können wir uns irgendwann impfen lassen, gegen diese unheilige Allianz aus Verschwörungsideologien, Rechtsextremismus und enthemmtem Bürgertum hilft nur eines: Solidarität.

Aida Baghernejad, geb. 1988, ist freie Kulturjournalistin in Berlin und Co-Moderatorin des Podcasts 55 Voices for Democracy

Info

Lesen Sie hier das Gegenargument von Sebastian Puschner zu diesem Text

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