Erwerbs- und Care-Arbeit im „ganzen Haus“

Produkt der Intimität Welchen Einfluss haben Digitalisierung und Diskurse über Produktivität und Vereinbarkeit auf Geschlechterrollen und Aufgabenverteilungen in Familien?

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Erwerbs- und Care-Arbeit im „ganzen Haus“ oder Arbeit als Produkt der Intimität

Werden die rigiden Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt (Haus-, Familien- und Erwerbsarbeit), die sich im 19. Jahrhundert in der bürgerlichen Familie etablierten, durch die fortschreitende Digitalisierung Anfang des 21. Jahrhunderts und in Zeiten von Corona wieder durchlässiger oder gar noch zementiert?

Werden die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichen durch das Web 2.0, die sozialen Medien, Telearbeit („Home Office“) [*] und Home Schooling gehackt, und wenn ja, lösen sich damit auch die Rollen und Aufgabenverteilungen [in der (oberen) Mittelschicht] wieder oder noch stärker auf?

Mit Arbeitssettings wie Telearbeit und/oder Selbstständigkeit findet Produktion wieder direkt in der Familie und ihrer Wohnstätte statt.

Der „private“ Familienkontext erhält damit u.U. auch wieder direkte Produktionsfunktion (im Sinne des „ganzen Hauses“, in dem alle Familienmitglieder oder – bei Außerhaus-Erwerbstätigkeit eines Elternteils - zumindest die Kinder indirekt am Wirtschaften beteiligt sind).

Wenn ich als Journalist*in/ Blogger*in beispielsweise (aufgrund von Corona) über mein Familienleben schreibend reflektiere oder es fotografisch dokumentiere, sind die familiären Ereignisse und Begebenheiten plötzlich verwertbar und das Familienleben an sich somit produktiv. Während ich mein Kind wickle, denke ich darüber nach, wie ich diesen Prozess den Lesenden am besten nahebringen und an welcher Stelle ich ihn als lebensnahes Qualitätsmerkmal meines Expert*innenstatus einfügen könnte.

Dadurch, dass Verwertbarkeit zum Kriterium wird, könnten auch die Anforderungen an die Entlastungsfunktion der Familie niedriger ausfallen und ggf. Konflikte positiver bewertet werden, denn wenn alles nur entspannt wäre, gäbe es vermutlich wenig(er) zu berichten. Andererseits könnte auch der Wunsch, das eigene Leben online in einem positiven Licht erscheinen zu lassen, dazu führen, dass durch die kreative Leistung des Inszenierens (s.u.) eine kognitive Umstrukturierung erfolgt, durch welche Negatives umgedeutet oder verdrängt wird.

Der Diskurs über Geschlechterrollen und Familienmodelle macht die Familie produktiv.

Wenn der Bericht von Männern über ihre (meist bereits nach zwei Monaten endende) Elternzeit auf dem Markt nachgefragt wird, dann „lohnt“ es sich für Väter diese Erfahrung zu machen. Natürlich gibt es Autoren, die nicht (mehr) vorrangig kommerzielle Absichten verfolgen, es scheint aber an der ein oder anderen Stelle durch, dass Unternehmen, auch Väterblogs für werbewirksame Medien halten und gesponsertes Schreiben zumindest keine unlukrative Möglichkeit des Zuverdienstes darstellt. Gleichzeitig kann das Produkt der Intimität von Eltern trotz zunehmender Normalisierung sicher auch heute noch nicht immer in der Öffentlichkeit „vertrieben“ werden ohne berufliche Nachteile zu riskieren.

Die neuesten Pläne einiger großer US-Unternehmen - Mitarbeitende in Telearbeit geringer bzw. „ortsabhängig“ zu entlohnen um Anreize für die Rückkehr ins Büro zu schaffen – [1] weisen z.B. darauf hin, dass der Produktion im „ganzen Haus“ im Allgemeinen geringere Produktivität im Vergleich zur öffentlichen Sphäre des sozial kontrollierbaren Raums des Büros unterstellt wird.

Digitalisierte Kommunikation ermöglicht Instant-Scheinteilhabe an der privaten_öffentlichen Sphäre.

Vielleicht imaginiere ich hier eine heile Welt vom früher üblichen Gang auf den Markt oder in den Tante-Emma-Laden und schreibe diesem eine soziale Funktion der Vernetzung, vor allem auch von Frauen* ein, die das heutige Einkaufen in Supermärkten oft nicht mehr zu erfüllen vermag, geschweige denn als gesellschaftliches Ziel ansieht. Einkäufe bieten heutzutage seltener Anlass für Austausch, da Warenvertrieb und -konsum einerseits durch Vollsortimenter zentralisiert und durch Selbstbedienungskassen rationalisiert wurden, anderseits durch „Home-Shopping“ und Lieferservices wieder dezentralisiert werden. Anreize, das Private zu verlassen um im öffentlichen Raum Existenzielles zu erwerben, werden damit zusätzlich immer stärker verringert.

Die Digitalisierung des Alltags ermöglicht es (vor allem Frauen in der Elternzeit) jedoch dem Privaten zu entfliehen, sodass ich als Mutter zwar vorgebe „Zuhause“ zu sein, in Wirklichkeit aber permanent oder zeitweise mit dem Draußen kommuniziere um mich der Illusion hinzugeben, ich sei - wenn nicht physisch so zumindest - geistig in der Öffentlichkeit präsent oder nähme an ihr teil. Das Aufsuchen der Pseudo-Öffentlichkeit der sozialen Medien durch Mütter („Social Mom Boom“) ist ein beachtenswertes Phänomen zwischen „Ich s(t)imuliere sozialen Austausch, den ich in meiner alltäglichen familiären Zentriert- oder Isoliertheit ggf. weniger als vorher erfahre.“ (Digital Mom), „Ich inszeniere mein Familienleben im Schaufenster als eine perfekte Welt“ (Social/ Insta Mom) und „Ich gebe einen „ungeschminkten“ Einblick hinter die Kulissen“ (Mamablog-Mom). Etwa 40 Prozent der Mütter informieren sich in Communities und Foren zu den Themen Baby, Kind und Elternschaft, um die 29 Prozent nutzen Facebook-Gruppen. Die Digital Moms sind damit im Allgemeinen aktiver als die sonstige digitalisierte Bevölkerung insgesamt. [2] Der Marketingbranche zufolge würden die Digital Moms bereits die „kaufaffine Hausfrau unter 50“ als Marketingzielgruppe ersetzen. [3] Dass Kinder als Influencer und mithilfe von Product Placement sogar ein beträchtliches Einkommen erzielen können und ihr Kinderzimmer damit je nach Ausmaß und Freiwilligkeit dieses „Hobbies“ auch direkt zur Arbeitsstätte werden kann, erweitert den mittelbaren digitalen Aktionsradius ambitionierter Eltern zusätzlich.

Vätern, die weiterhin erwerbstätig sind, während ihre Partner*innen in Elternzeit die Care-Arbeit leisten, erlaubt die digitalisierte Kommunikation im Alltag es hingegen, sich dem Öffentlichen zu entziehen, sodass ich zwar vorgebe „auf Arbeit“ zu sein, in Wirklichkeit aber permanent oder zeitweise mit „dem Privaten“ kommuniziere um mich der Illusion hinzugeben ich sei aktiv sorgender Elternteil oder nähme zumindest an ihr (An-)teil. (Die digitalen Kommunikationsmuster zwischen Eltern während der Elternzeit, wenn nur eine Person in Elternzeit ist und die andere erwerbsarbeitet, wäre sicher ein interessantes Forschungsvorhaben). Ich simuliere damit einen intimen Austausch (mit dem*der Partner*in), dem ich durch meine alltägliche Erwerbsarbeitszentriertheit zeitweise entsage und den ich in jener Umgebung mit anderen Menschen tendenziell weniger erfahre.

Ich konsumiere, also bin ich mehr als nur ein Elternteil.“

Wenn ich allerdings als Vater in Elternzeit bin und im Papaladen in Kreuzberg mit anderen Männern Kaffee trinken und mich dadurch produktiver als im Umgang mit meinen Kindern/meinem Kind fühlen kann, dann konsumiere ich wenigstens und habe damit indirekt am Wirtschaftsleben teil.

Wenn ich dies als Mutter mit anderen Müttern tue, oder mich mit meinem Mann/Partner während seiner (sic!) Mittagspause zum Essen im familienfreundlichen Café/Restaurant treffe, dann ist auch dies ein Versuch dem Privaten zu entkommen und den damit verbundenen Care-Tätigkeiten - in diesem Fall der Zubereitung von Lebensmitteln und dem Reinigen und Ordnen der Küche. Die Idee, dass die Frau dem Mann das Essen zur Arbeit bringt oder der Mann zum Mittag heimkehrt, wurde z.T. abgelöst durch die Idee, dass die Frau ihre Zeit so strukturiert, dass sie zum Zeitpunkt X am Ort Y und die Familie gemeinsam in der Öffentlichkeit is(s)t). Der Preis für die Integration der Familie in den öffentlichen Raum ist dafür unter Umständen eine Isolation der erwerbstätigen Person von Kolleg*innen. Dass Familien gemeinsam in Kantinen essen, ist im universitären Kontext zu sehen, in Betrieben jedoch eher (noch) die Ausnahme. [4]

Dafür gibt es seit einiger Zeit eine ganze Branche (Kinder-/ Eltern-, etc. -cafés), die zumindest in den Großstädten diese Reproduktionsfunktion abdeckt. Auffallend ist hierbei, in Hinblick auf die einleitende Frage nach den Rollen und der Aufgabenverteilung, wer in diesen Pufferzonen die Verantwortung übernimmt. Laut Statistischem Jahrbuch 2019 des Statistischen Bundesamtes zum Arbeitsmarkt sind in der Gastronomie rund 61 Prozent Frauen beschäftigt. Der Anteil der „Ausländer/-innen“ beträgt ein Drittel an der Anzahl der Beschäftigten. [5]

Dass in ländlich(er)en Gegenden die Auswahl an derartigen Care-Leistungen hingegen nicht vorhanden bis gering ausgeprägt ist, und ein oft pendelnder Elternteil gleichwohl schlechter in den Care-Alltag integrierbar ist; dass bei Arbeitenden im Schichtbetrieb die Pause oft gerade reicht um in die betriebseigene Kantine zu gehen; dass in Zeiten von coronabedingten Einschränkungen vielleicht doch wieder jemand nach Hause kommt, weil die Kantine geschlossen ist, oder jemand anderes versucht die Mittagspause in Telearbeit durchzuarbeiten, weil da ein Kleinkind Mittagsschlaf macht; dass Tim Mälzer in diesem Fall rät „Am besten sollten die Eltern dann gleich zwei, drei Tage vorkochen. Das haben die Menschen früher auch gemacht. ... Da brauchst du eigentlich nur auf unsere Mütter und Großmütter zu gucken." [6] und vielleicht doch auch wieder nur die Mütter und Großmütter gemeint sind; all das tischen wir uns mittags heiß auf und schmieren es uns dann abends lauwarm aufs Brot, damit wir es morgens abgekühlt mitnehmen und mittags nochmals durchkauen können.

Umfragen im Mai 2020 ergaben schließlich, dass Mütter*, die sich während der coronabedingten Kita- und Schulschließungen im „Home-Office“ befanden, häufiger als Väter* Arbeitsaufgaben liegen lassen mussten. [7] Auf die Frage „Wie hat sich insgesamt die Zeit verändert, die Ihr Kind mit folgenden Personen verbringt?“ antworteten dementsprechend auch Mütter von Kindern jeden Alters häufiger als Väter (10-17 Prozentpunkte Differenz), dass sie mehr Zeit mit ihren Kindern verbracht hätten. [8]

Vorerst lässt sich resümieren, dass die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt (Haus-, Familien- und Erwerbsarbeit) durch den coronabedingten Digitalisierungsschub in Familien, insbesondere jenen von (Büro-)Angestellten der Mittelschicht, verschwimmen. Das Öffentliche hackt in Zeiten von Corona das Private durch Telearbeit („Home Office“) und Home Schooling. Das Private zieht sich zeitgleich - außer im Digitalen - immer mehr aus dem Öffentlichen zurück. Eltern [der (oberen) Mittelschicht] teilen Rollen und Aufgaben nach wie vor nur langsam neu auf bzw. verteilen diese z.T. auch wieder traditionell (und nach unten) um. Welche Auswirkungen die geplante ortsabhängige Vergütung von Mitarbeitenden in Telearbeit auf Eltern und deren Wunsch auf dauerhafte Arbeit von Zuhause aus haben wird, bleibt abzuwarten. Sollte diese Praxis sich durchsetzen, ist die Wahrscheinlichkeit jedoch hoch, dass vorrangig Mütter innerhäusisch care- und erwerbsarbeiten und damit praktisch und finanziell von der Abwertung dieser Verbindung betroffen sein werden.

Anmerkungen und Quellen:

[*] Kritische Anmerkung zu den Begriffen Telearbeit und Home Office

Der Begriff Telearbeit wird von Unternehmen gerne verwendet, wenn einzelne Aufgaben von den Mitarbeitenden zu Hause ausgeführt werden, ohne dass erstere letzteren die Arbeitsmittel dafür nach gängigen Büro- und Arbeitsschutzstandards (inklusive Schreibtisch, Schreibtischstuhl, Beleuchtung, Telefon, Internet, Drucker, …) zur Verfügung stellen. Der Begriff „Home Office“, der sich in aller Munde befindet, würde aber genau diese Standards im Sinne eines zu Hause eingerichteten Büros verlangen und ist zwar ggf. sprachlich schöner, jedoch nicht nur falsch aus dem Englischen übersetzt (wörtlich bedeutet es Innenministerium) sondern auch inhaltlich falsch.

[1] Google zahlt weniger Gehalt im Home Office

https://www.basicthinking.de/blog/2021/08/12/google-zahlt-weniger-gehalt-im-home-office/

[2] Digitalisierung in der Familie

https://www.kartenmacherei.de/digitalisierung-in-der-familie/#eltern

[3] Gut vernetzte Mütter – Der Social Mom Boom

https://www.kantarmedia.com/de/strategischer-ansatz-und-ressourcen/blog/gut-vernetzte-mutterder-social-mom-boom

[4] Kinder in der Kantine und Ingenieure am Wickeltisch

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/familie-und-beruf-kinder-in-der-kantine-und-ingenieure-am-wickeltisch-1330224.html

[5] Statistisches Bundesamt (2019). Statistisches Jahrbuch 2019

https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Jahrbuch/jb-arbeitsmarkt.pdf?__blob=publicationFile

[6] Mälzer: Vorkochen in Zeiten von Homeoffice und -schooling

https://www.hamburg.de/nachrichten-hamburg/14883922/maelzer-vorkochen-in-zeiten-von-homeoffice-und-schooling/

[7] Umfrage zu Eltern im Homeoffice

https://de.statista.com/infografik/21727/umfrage-zu-eltern-im-home-office-waehrend-der-corona-pandemie/

[8] Corona-Krise: Kinderbetreuung in Deutschland nach Bezugsperson im Jahr 2020

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1119057/umfrage/corona-krise-kinderbetreuung-nach-bezugsperson/

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