Alle schlafen, einer spricht: Das nennt man Unterricht. Wir kennen wohl alle diese Situation aus unserer Schulzeit. Vorne dröhnt die Lehrkraft, am Fenster summt die Fliege, man döst und wartet auf die erlösende Klingel. Deshalb fordern Pädagogen seit über hundert Jahren einen Unterricht, der Kinder aktiviert, statt sie zu sedieren. Das Problem ist nur: Viele wissenschaftliche Arbeiten weisen darauf hin, dass Kinder beim traditionellen Unterricht mehr lernen.
Thilo Kleickmann, Professor für Schulpädagogik in Kiel, beschreibt in einem Essay einen Unterricht, der das Herz jedes progressiven Didaktikers höherschlagen lässt. Es geht um das Thema Wasser in der dritten Klasse. Die Kinder machen einen „Stationslauf“ durch: An der ersten k
sten können sie ausprobieren, ob verschiedene Objekte im Wasser schwimmen, an der zweiten, was passiert, wenn sich verschiedene Stoffe in Wasser auflösen und so weiter. Sie basteln sogar eine Kläranlage mit einfachen Mitteln und prüfen die Wirksamkeit verschiedener Filterstoffe. Die Kinder sind aktiv, arbeiten intensiv und haben Freude: So geht moderner, schüler- und handlungsorientierter, fachübergreifender Sachunterricht. Aber was lernen die Schüler bei so viel „Betriebsamkeit“, fragt Kleickmann. Lernen sie, „gründlich nachzudenken“? Werden sie „kognitiv aktiviert“? Seine Antwort: eher nicht.Die Einwände gegen „lehrerzentrierten“ oder „Frontalunterricht“ sind einleuchtend: Alle Kinder müssen im gleichen Tempo lernen, obwohl sie verschiedene Voraussetzungen mitbringen. Die Lehrkraft merkt nicht, wer was kapiert oder nicht kapiert – oder döst. Passives Lernen gilt als wenig nachhaltig im Vergleich zu „learning by doing“. Deshalb hat die Didaktik zahlreiche Konzepte entwickelt, um die Schüler zu aktivieren. Die Pädagogik-Professoren Olaf Köller und Hilbert Meyer zählen sie in einem Papier auf: vor 40 Jahren der lernzielorientierte Unterricht, dann der Projektunterricht, vor 30 Jahren der handlungsorientierte Unterricht, vor 20 Jahren die Wochenplan- und Freiarbeit, dann der fächerübergreifende und kompetenzorientierte Unterricht, immer verbunden mit der Aufforderung, den Unterricht zu individualisieren.Dass die reformresistente deutsche Lehrerschaft diesen didaktischen Erweckungsbewegungen die Spitze genommen hat, steht auf einem anderen Blatt. Angeblich wird in deutschen Schulen nach wie vor 90 Prozent der Zeit frontal unterrichtet. Wie schlimm ist das? „Der Unterrichtsstil ist wichtig für die Schülerleistung, aber genau umgekehrt als von der konventionellen Weisheit angenommen“, schreiben die Bildungsforscher Guido Schwerdt und Amelie Wuppermann: „Die Betonung des Lehrervortrags gegenüber problemlösenden Aktivitäten führt zu höheren – nicht niedrigeren – Schülerleistungen.“ Die Autoren untersuchten den Mathematikunterricht in amerikanischen Mittelschulen und kamen zum Ergebnis, dass zehn Prozent mehr Lehrervortrag im Jahr einem Lernzuwachs von einem Monat bis zwei Monaten entspricht.Die Glühbirne über dem KopfDer Bildungsforscher John Hattie fragte sich, welche „Effektgrößen“ die Wirksamkeit von Unterricht – er nennt es die „Tiefenstruktur“ – bestimmen. Dazu wertete Hattie ein immenses Datenmaterial aus. „Oberflächenstrukturen“ wie Klassengröße und Schüleraktivität, Inklusion und Homogenität waren, so fand er heraus, weniger wichtig, als Lehrerverbände, Politiker, Pädagogen und Journalisten meinen. Das Entscheidende geht von der „Glaubwürdigkeit des Lehrers oder der Lehrerin bei den Schülern“ aus. Wichtig ist außerdem die soziale Atmosphäre in der Klasse, vor allem der Zusammenhalt. Lehrerautorität also und Klassensolidarität – nicht Lernzielorientierung und Individualisierung.Jeder, der mal Schulkind war, weiß es, nun ist es wissenschaftlich erwiesen: Auf die Lehrerin kommt es an. Und zwar, darf man vermuten, gerade bei „bildungsfernen“ Schülern. Wer intrinsisch motiviert ist, lernt trotz Lehrer. „Schlechte“ Schüler hingegen lernen oft für die Lehrerin oder eben gar nicht. Jeder Lehrer kennt den Moment, wo „kognitive Aktivierung“ gelingt, wo man förmlich die Glühbirne über dem Kopf der Schülerin angehen sieht. Für diese (seltenen) Momente lebt eine Lehrkraft, die sich den pädagogischen Eros nicht von Leuten ausreden lässt, die eine dreckige Fantasie haben.Vor Jahren schrieb ich über den Unterricht einer solchen Lehrerin in Berlin-Wedding: „Der junge Macho Mohammed braucht ein ernstes Wort, der dicke Außenseiter Maik eine kurze Umarmung, die kluge Layla ein Zwinkern, die überforderte Gülca Aufmunterung. Und alle immer wieder ein Lächeln, das ihnen sagt: Wenn ihr was leistet, macht ihr mir Freude.“Guter Unterricht ist immer lehrerzentriert. Freilich muss der Lehrer gut sein. Dazu gehören Fachwissen und didaktisches Handwerkszeug, Dinge also, die man lernen kann. Damit aber der Lehrervortrag wirkt, damit der lehrerzentrierte Unterricht die Schüler hebt und nicht niederdrückt, braucht die Lehrkraft Autorität, die aus Glaubwürdigkeit kommt. Und das bedeutet: Die Kinder müssen spüren, dass die Lehrerin für ihre Kinder brennt. Das freilich kann man nicht lernen.