Martin Schulz hat am Sonntag die Wahl zum Parteivorsitzenden der SPD mit dem besten Ergebnis bestanden, das jemals ein Sozialdemokrat in dieser Position errang: 100 Prozent. Alle 605 abgegebenen gültigen Voten der stimmberechtigten Delegierten gingen an den den ehemaligen Präsidenten des europäischen Parlaments. Der Sonderparteitag machte Schulz anschließend per Handzeichen auch zum Kanzlerkandidaten. Schulz nahm in seiner Rede erneut zu dem Vorhaben Stellung, "Fehler" bei den so genannnten Agenda-Reformen zu korrigieren. Der Kandidat hatte sich zuletzt gegen Teile der wichtigsten Arbeitsmarktreform der Nachkriegsgeschichte gewandt, die unter Gerhard Schröder als Agenda 2010 auf den Weg gebracht worden war. Ein ehemaliger enger Parteifreund erinnert sich, dass Martin Schulz zur Agenda eine durchaus wechselhafte Meinung hatte.
Als ich zu meinen Juso-Zeiten ab Ende der 1990er Jahre Martin Schulz als meinen SPD-Unterbezirksvorsitzenden im Kreis Aachen kennenlernte, war er schon kein sozialer Aufsteiger, kein Buchhändler und kein ehrenamtlicher Bürgermeister mehr. Schulz war bereits SPD-Europaabgeordneter und ab dem Jahr 2000 Sprecher der deutschen Landesgruppe in der sozialdemokratischen Fraktion des Europäischen Parlaments. Zu seinen größten Talenten gehörte es, unprätentiös von seiner politischen Arbeit zu sprechen. Selbst als er auf dem sicheren Weg war, Spitzenkandidat der SPD bei der Europawahl 2004 zu werden, verlor er nie Interesse und Leidenschaft für die Kommunalpolitik zwischen der Eifel und dem Niederrhein. Der Mann aus Würselen war eine sichere Bank für den Kontakt zum (Partei-)Volk.
Schulz konnte in nahezu jedem Umfeld mit überschaubarer Vorbereitung Leute mitreißen. Als es im kommunalen Kino „Metropolis“ in Würselen eine Eröffnungsfeier zu bestreiten gab, trat Martin Schulz vor die Leute. Er erzählte mitreißend von der Kinematografie. Schulz habe eine Rede gehalten, erinnerte sich der Geschäftsführer, als wäre es der SPD-Mann selbst, der 20 Jahre im Vorführraum gestanden hatte. Selbst bei den Jungsozialistinnen, deren Identität auf Skepsis zur Mutterpartei beruhte, wirkte Schulz glaubwürdig. Auf wundersame Weise brachten ihm die stets renitenten Jungsozialisten weniger Misstrauen entgegen.
Wenn eines an Martin Schulz authentisch ist, dann sein Antifaschismus. Zeitgenossen der Antifa sichteten ihn regelmäßig bei Demonstrationen gegen Neonazis und Rassismus. Gegenüber den Jusos seines Unterbezirks übte Schulz eine von SPD-Politikern selten gekannte deutliche Selbstkritik, als er seine Unterstützung des sogenannten Asylkompromisses von 1993 als einen seiner schwersten Fehler bezeichnete. Die durchaus vorhandenen Folgeprobleme der Migration hätte man auch anders in den Griff bekommen können, sagte er damals. Der üblen Kampagne der Union zur De-facto-Abschaffung des Artikels 16 im Grundgesetz hätte man nicht nachgeben dürfen.
Gürtel enger schnallen
Schulz’ bevorzugtes rhetorisches Instrument allerdings war der polemische Angriff. Hier entwickelte und perfektionierte der Rhetor Schulz eine Technik, die selbst dem damals in der SPD unvermeidlichen Franz Müntefering abging. Schulz verstand sich wie kaum ein anderer darauf, das sozialdemokratische Faszinosum des „kleineren Übels“ auszubeuten. Er bestärkte seine gebannten Zuhörer in ihrer moralischen Gewissheit, dass sie bei der SPD auf der richtigen Seite stehen – mindestens historisch. Wenn es um den Zweikampf an der Urne zwischen Union und SPD ging, sprach er nie über kleinliche Sachfragen, sondern appellierte an die historische Mission der Sozialdemokratie. Beinahe jeder Wahlkampf der Bundesrepublik, so Schulz, sei vom Gegner nach dem gleichen Muster betrieben worden: „Freiheit oder Sozialismus!“ oder: „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!“ Als die SPD vor der Bundestagswahl 2002 die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt verloren hatte, schwor Müntefering die Genossen mit dem Hinweis ein, man müsse „den Helm fester schnallen“.
Mit derlei Bescheidenheit gab sich Martin Schulz’ Rhetorik nie zufrieden. Selbst bei der Nominierung der nicht gerade weltbewegenden SPD-Kandidatur für den Landrat des Kreises Aachen wusste er eine Rede zu halten, die tief ins Gedächtnis der SPD eindrang. Er suggerierte dem sozialdemokratischen Publikum, dass es den Wind der Geschichte wiedergewinnen könne – wenn es sich nur geschlossen zeigte. Generalsekretär Olaf Scholz versuchte oft hilflos, die Parteisoldaten der SPD mit Durchhalteparolen bei der Stange zu halten. Martin Schulz hingegen hatte ein untrügliches Gespür dafür, den Genossen ein Gefühl des Heroischen zu vermitteln – das galt gerade auch bei der Durchsetzung der Agenda 2010. Der Würselener begründete die Unterstützung dieses scharfen Umbaus der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik mit einem notwendigen Opfer. Es gehe darum, vorübergehend den Gürtel enger zu schnallen – zugunsten der Kinder und Enkelkinder. Inhaltlich war das, wie wir heute wissen, eine grobe Fehleinschätzung. Gerade weil Schulz die Genossen aber nicht wie der „Scholzomat“ aus Hamburg technokratisch zurechtwies, sondern an ihr Gewissen appellierte, erreichte er sie im Innersten. Er redete ihnen die Agenda 2010 als eine Art heldenhaftes Opfer ein. So gelang es ihm, die sozialdemokratische Parteiseele zu streicheln. Ähnlich gut wie ihm glückte das nur Erhard Eppler, der mit der wahrscheinlich folgenreichsten politischen Rede der letzten 20 Jahre die Delegierten auf dem Berliner Sonderparteitag mit der Agenda 2010 versöhnte. Leuten, die sich der sozialen Gerechtigkeit verschrieben hatten, glaubhaft zu machen, dass ausgerechnet der „Genosse der Bosse“ Schröder „auf der Abschussliste des Kapitals“ stehe, so etwas konnte nur jemand mit der Glaubwürdigkeit des altgedienten Haudegen der Partei wie Eppler gelingen – oder eben jemandem, der aus jeder Pore sozialdemokratischen Stallgeruch verbreitete: Martin Schulz.
Sankt Martin
Martin Schulz ist die schärfste Waffe der SPD seit Willy Brandt. Der 1955 in Hehlrath (NRW) geborene Katholik hat die Umfragewerte der SPD über Nacht explodieren lassen. Schulz’ Biografie ist widersprüchlich sozialdemokratisch. Der Vater Dorfpolizist und SPD-nah, die Mutter katholisch und Gründerin der örtlichen CDU. Schulz, der heute fünf Sprachen beherrscht, packte das Abitur nicht, er lernte Buchhändler, wurde ein engagierter Bürgermeister von Würselen und wechselte früh ins Europaparlament, wo er bis ganz nach oben durchstieg. Als Präsident des Parlaments spielte er seine glänzende Rhetorik und den deutschen Vorteil aus: Wer wusste dort schon, wie klein Schulzens Rolle in der deutschen SPD war? Berühmt machte ihn unter anderem ein Disput mit Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der ihn als Musterbeispiel des deutschen KZ-Kapos bezeichnete. Inzwischen wird ihm zugetraut, die ewige Angela abzulösen und Kanzler zu werden.
Dabei war Schulz nie ein überzeugter Neoliberaler – soweit seine Auftritte Aufschluss darüber geben, blieb ihm gesamtwirtschaftliches Denken einfach fremd. Noch im Winter 2002 äußerte er vor Jungsozialisten die Befürchtung, dass der Einfluss neoliberaler Doktrinen in der Partei gefährlich an Boden gewinne. Er begrüßte auch die Diskussion um das mangelnde sozialdemokratische Profil der SPD in der Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik, die Oskar Lafontaine in seinen damaligen Bild-Kolumnen angestoßen hatte. Freilich brachte Schulz das Kunststück fertig, Lafontaine aus dieser Debatte herauszuhalten. Sobald der innerparteiliche Wind in der SPD sich immer eindeutiger zugunsten Gerhard Schröders Agenda 2010 zu drehen begann, änderte Schulz seine Position, und zwar immer rechtzeitig. Bei den Regionalkonferenzen im Vorfeld des Agenda-2010-Parteitags wies Schulz ihm bekannte Genossen und Genossinnen an, dem Parteilinken Ottmar Schreiner nicht Beifall zu klatschen. Als Schreiner und andere Bundestagsabgeordnete sich gegen Teile von Ulla Schmidts Gesundheitsreform wandten, die den Wahlversprechen der SPD von 2002 widersprachen, gelang es ihm irgendwie, unter dem Beifall seines Unterbezirksparteitages die „Abweichler“ für das Umfragetief der SPD verantwortlich zu machen. Als wollte die SPD Tucholskys Bonmot bestätigen: „In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.“
Nützliche Feindbilder
Es war unvermeidlich, dass auch die Kehrseite von Schulz’ bemerkenswerten Fähigkeiten sich bemerkbar machen musste. Je lautstärker er die Heroisierung der SPD vor einer Wahl betrieben hatte, desto kleinlauter mussten anschließend Zugeständnisse und Preisgabe von Positionen verkündet werden. Auch dem wohlwollendsten Parteifunktionär seiner SPD musste auffallen, wie handstreichartig er die Gegnerschaft zur neuen „Städteregion Aachen“ als Nachfolger des Kreises Aachen aufgab – nachdem er sie doch kurz zuvor noch zum Kern der eigenen Kampagne gemacht hatte. Oder dass die SPD Einschränkungen beim Kündigungsschutz zustimmte – nachdem er überzeugend vorgetragen hatte, diesen gegen Edmund Stoiber verteidigen zu wollen. Dem Erfolg des Martin Schulz tat das keinen Abbruch. Es boten sich schließlich stets genug Feindbilder an, gegen die zu agitieren und damit die Mitglieder anzuheizen seine Stärke blieb: Angela Merkel, George W. Bush, Silvio Berlusconi, Jean-Marie Le Pen. Schulz wusste sogar sein Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus hochzuhalten, indem er den längst entkernten Begriff gegen Olaf Scholz und dessen Abschaffungsversuche verteidigte. Schulz hielt sich aus den Ränkespielen der Bundespolitiker heraus, er operierte in Brüssel und Straßburg auf einem Terrain, von dem kaum jemand wusste, was da eigentlich getrieben wurde. Er machte keine Anstalten, sich am Kabinettstisch die Hände schmutzig zu machen.
Wofür Martin Schulz seine Fertigkeiten einzusetzen wusste, zeigt den Kern der sozialdemokratischen Malaise. Mit den richtigen Zielen können diese Fähigkeiten ursozialdemokratisch, gar sozialistisch erscheinen. Der polnisch-amerikanische Politologe Adam Przeworski hat herausgearbeitet, dass die schwierigste Hürde sozialistischer Reformen das „Tal der Tränen“ sei, also jene Krisenperiode, in der die Kapitalisten eine linke Regierung durch Investitionsstreiks, Kapitalflucht und Massenaussperrungen in den Ruin zu treiben trachten. Es ist schwer vorstellbar, dass eine sozialdemokratische Anhängerschaft diese Durststrecke ohne die Vergewisserungen durch charismatische Führungspersönlichkeiten durchsteht. Hat die Sozialdemokratie aber ihren Anspruch, den Kapitalismus und seine Machtverhältnisse anzugehen, tatsächlich bereits aufgegeben, reicht es ihr schon, nur an der Regierung, statt wirklich an der Macht zu sein, dann verkommt die motivierende Ansprache noch des urigsten Vorsitzenden zur parteisoldatischen Selbsttäuschung.
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