Kolumbien wird seit Jahrzehnten als Krisenstaat wahrgenommen und scheint hoffnungslos einem Bürgerkrieg verfallen, der sich unbehelligt reproduzieren kann. Die Ursachen reichen bis in die Geburtsstunde der kolumbianischen Nation zurück. Ein Blick in die Geschichte eines zerissenen Landes
Der erste kolumbianische Bürgerkrieg dauert zwei Jahre. Er wird 1839 ausgelöst durch einen Offizier aus dem Cauca: José Maria Obando, der sich wegen der Ermordung des Bolívar-Nachfolgers Marschall Sucre vor Gericht verantworten soll, aber stattdessen gegen die Zentralgewalt in Bogotá marschiert. Danach herrschen zehn Jahre schwüler Ruhe, aber bereits 1849 erheben sich drei Sklavenhalter und Großgrundbesitzer aus dem Cauca: José Hilario López, Pedro Alcantara Herrán und Tomás Cipriano de Mosquera, einst Adjutant Simón Bolívars. Das Resultat sind zwei weitere Bürgerkriege 1851 und 1854. Der vierte wird 1859 erneut von Tomás Cipriano de Mosquera begonnen, der nach seinem Sieg die Verfassung von Rionegro durchsetzt, die das moderne Heer - Typ "Grande Armée" - abschafft, das Simón Bolívar während des Unabhängigkeitskrieges mit viel Mühe aufgebaut hat. Zugleich stärkt Cipriano mit seiner Konstitution die Großgrundbesitzer, indem er ihnen die Ländereien der Indianerreservate und der Katholischen Kirche übereignet. Er führt außerdem den freien Handel ein und kommt damit einer Forderung der Industriemächte England und USA nach.
Als ob es heute geschrieben worden wäre, vermerkt der amerikanische Botschafter 1879 in einem Brief an seinen Außenminister in Washington: "Es gibt hier ein vorherrschendes Gefühl oder eine Idee, die über allen anderen zu stehen scheint - nämlich, dass die Sicherheit für das Leben, die Freiheit und das Eigentum von den Garantien der Regierung und der Behörden abhängt und nicht als offensichtliche Tatsache und eigenständiges Gefühl von Recht und Pflicht existiert."
Als die Ära der Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts endet, hat Kolumbien ein Drittel seiner Bevölkerung verloren und ist völlig ruiniert, während US-Präsident Theodor Roosevelt die kolumbianische Provinz Panamá in Besitz nehmen kann. Der kolumbianische Präsident Alberto Lleras Camargo, der lange Jahre von Washington aus die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) regiert hat, schreibt über dieser Periode, sie habe die Kolumbianer gelehrt, ihre Konflikte mit Hilfe von Kriegen zu lösen - als ob sie ein Spiel wären: "Aber wie und wo sind diese Kriege ausgebrütet worden? Klar ist, dass hinter der Erhebung immer ein militärischer Chef von einiger Bedeutung steht, der über seine Verbindungen in die Provinzen verfügt und entschlossene Hauptleute in den Minen und Haciendas weiß."
Es waren vor allem die Großagrarier, die den oft tödlichen Krieg zu einer "fröhlichen Übung" machten, um mit Überfällen oder Gewalttätigkeiten gegenüber dem Eigentum oder der Frau des Nachbarn die eintönige Routine des Alltags, die langweiligen Besäufnisse des Dorfes und die alltäglichen Grausamkeiten und Eifersüchteleien zu durchbrechen. Der auf seinem Rancho isolierte Campesino wurde stärker als der Dorf- oder der Stadtbewohner von der Einsamkeit, der Stille und Dunkelheit der Nacht, dem undurchdringlichen Gesicht seiner Frau, dem Bellen der Hunde und dem Geschrei seiner Kinder zerfressen.
Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Expansion des nordamerikanischen Finanzkapitals macht auch in Kolumbien nicht bei Banken halt, sondern dehnt sich auch auf die Bananen- und Erdölproduktion aus. So entstehen im ganzen Land "produktive Enklaven", die schnell zu Brandherden der sozialen Instabilität werden - nicht zuletzt dank der primitiven Formen der Ausbeutung, denen die Arbeiter unterworfen sind. Die Regierung unterdrückt die Proteste mit Hilfe der restrukturierten nationalen Streitkräfte, die um diese Zeit durch eine Mission des deutschen Heeres beraten wird. Die Resultate lassen nicht auf sich warten. Eine Demonstration von Schneidern, die 1919 in Bogotá friedlich gegen den Import von 8.000 Armeeuniformen protestieren, endet mit zehn Toten. Auf Plantagen der United Fruit Company in Santa Marta wurden 1928 über 800 Arbeiter erschossen. Die Truppen sind von dem Gedanken besessen, die "öffentliche Ordnung" zu retten. Fortan eine Obsession des Heeres, das sich in eine politisierte und destruktive Polizeitruppe verwandelt. Jorge Eliécer Gaitan, der seine steile politische Karriere damit beginnt, dass er diese Barbarei anklagt und sie als Ergebnis der "Zweiparteienoligarchie von Konservativen und Liberalen" brandmarkt wird, am 9. April 1948 ermordet - das Attentat wird zum Auftakt für eine lange, dunkle Serie ungesühnter Verbrechen des Staates, der Violencia, der bis heute mehr als 300.000 Kolumbianer zum Opfer gefallen sind. Sie werden wie in den Kriegen des 19. Jahrhunderts durch eine öffentliche Gewalt getötet, die zuallererst durch die Präsidenten der Republik angetrieben wird.
So hängt das Schicksal des Staates nicht vom Mehrheitskonsens eines (nicht existierenden) Bürgertums ab, sondern vom bewaffneten Apparat, der für sich immer mehr Autonomie fordert und auch erhält. 1957 offeriert Präsident Lleras Camargo in seiner berühmten Rede im Patria-Theater von Usaquén den Pakt zwischen ziviler und militärischer Macht: Die Armee ordnet sich der Regierung unter, erhält dafür aber soviel Autonomie und Protektion, dass ihre Privilegien unangetastet bleiben.
1964 beschließen die kolumbianischen Militärs, die als einzige aus Lateinamerika an der Seite der USA am Korea-Krieg teilgenommen haben, den berüchtigten Plan LASSO, um den Kommunisten den Garaus zu machen. Die kontrollieren um diese Zeit eine winzige Zone des Widerstandes in der Kaffeeregion von Tolima im Süden. Etwa 15.000 Soldaten beginnen mit Hubschrauberangriffen gegen 50 Campesino-Familien, die in diesem Raum leben und sich tapfer gegen ihre Vernichtung wehren.
"Was wir damals verlangten, hätte kaum mehr als 50.000 Pesos gekostet", wie Comandante Marulanda, einer der historischen Guerilla-Führer der FARC (*) feststellt: "Stattdessen lösten Bomben und Maschinengewehre einen Alptraum aus, unter dem wir seit vier Jahrzehnten leiden."
Als Mitte der sechziger Jahre zwei weitere Guerilla-Organisationen auftauchen - das Nationale Befreiungsheer ELN, an dessen Gründung der katholische Priester Camilo Torres teilnimmt, und das Volksbefreiungsheer EPL - ist die Doktrin des "inneren Feindes" geboren, die es erlaubt, den Staat jetzt erst recht mit irregulären Mitteln zu verteidigen, es grassiert ein "straffreier Paramilitarismus", hofiert von Viehzüchtern, Industriellen und Drogenhändlern oder den lokalen Regenten transnationaler Konzerne wie Coca-Cola oder Texaco.
Ende 1985 erleben wir die blutige Erstürmung des Justizpalastes im Herzen Bogotás, der kurz zuvor von einem Guerilla-Kommando besetzt worden war. Die Aktion zerstört nicht nur das Gebäude des Justizpalastes, sondern praktisch die kolumbianische Justiz, denn unter den weit mehr als 100 toten Zivilisten befinden sich 50 Richter und Staatsanwälte, darunter die 16 höchsten Rechtswahrer des Landes.
In den Jahren danach verschwinden auf Veranlassung des Staates, wie die Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten amtlich feststellt, mehr als 4.000 politische Kader des Linksbündnisses Union Patriótica (UP), das als Ergebnis der Friedensvereinbarungen zwischen der FARC-Guerilla und dem Präsidenten Betancourt entstanden ist, und tauchen nie wieder auf. Nicht weniger als vier Präsidentschaftskandidaten - darunter Pardo Leal und Jaramillo von der Unión Patriótica sowie der reformistische Kandidat der Liberalen Partei, Luis Carlos Galán - sterben durch Attentate, über die es bis heute keine Aufklärung gibt. Trotz dieser politischen Erschöpfung, die beschleunigt wird durch die Drogenkartelle, deren Agenten sich mit Bombenanschlägen gegen ihre drohende Auslieferung wehren, gelingt es dem Präsidenten Cesar Gavíria, eine wirklich neue Koalition zustande zu bringen - ein breites horizontales Bündnis, das sowohl den Block der herrschenden Schichten umfasst als auch demobilisierte Guerilla-Gruppen. Es entsteht die Verfassung von 1991, die symbolisch von Àlvaro Gómez für die Konservative Partei, von Horacio Serpa für die Liberalen und von Navarro Wolf für die ehemaligen Guerilleros unterschrieben wird. Sorgfältig beiseite gelassen werden die übrigen Guerillabewegungen wie EPL und FARC, deren Hauptquartier die Armee genau an dem Tag bombardiert, da die Wahl der Verfassunggebenden Versammlung ansteht.
Ansonsten implantiert die 91er Verfassung endgültig den transnationalen Neoliberalismus und legalisiert den Finanzkarneval, der "wirtschaftliche Öffnung" genannt wird. Der Latifundismus wird durch die Gelder der Drogenkartelle gestärkt, und mehr als vier Millionen Hektar fruchtbaren Landes gehen in die Hände von 5.000 Personen über. Die Nationale Polizei wird dem Verteidigungsminister unterstellt und verwandelt sich in eine Spezialeinheit zur Guerillabekämpfung des Heeres. Die Sonderrechte - besonders die umfassende Militärgerichtsbarkeit - bleiben unangetastet und konsequenterweise auch die Straflosigkeit für die Agenten des Staates (etwa wenn sie gemeinsam mit Paramilitärs schwere Verbrechen begehen). Der Staat fühlt sich daher sehr sicher und behauptet 1993 in einem über alle Medien ausgestrahlten Werbespot: er verteidige sich auch mit einer Motorsäge, wenn es sein müsse - die prompten Missbilligungen durch die UNO, die OAS und andere internationale Gremien kümmern ihn herzlich wenig. Wozu auch? Das 1985 im Justizpalast verbrannte Rechtssystem ist durch eine politische und politisierte Staatsanwaltschaft ersetzt worden, die für die Richterroben nur Verachtung hegt und den Staat täglich eine Million Dollar kostet.
Der UN-Hochkommissar für die Menschenrechte, Sergio Vieira, beklagt in seinem 6. Bericht über Kolumbien, den er im April 2003 in Genf vorlegt, eine alarmierende Straffreiheit von staatlichen Funktionären, die in schauerliche Verbrechen verwickelt seien. Er nennt Zahlen für das laufende Jahr: Danach sind in den ersten drei Monaten nicht weniger als 60 Gewerkschafter ermordet worden. Im Vorjahr gab es laut Vieira 544 von Paramilitärs zu verantwortende Attentate (eineinhalb pro Tag) mit 2.447 Todesopfern. Darüber hinaus wurden 4.512 Oppositionelle exekutiert, während im gleichen Zeitraum 734 Personen spurlos verschwunden sind. Nicht besonders erwähnt sind in dem Bericht die zwei Millionen "interner Flüchtlinge", die - von der Gewalt auf dem Lande vertrieben - nun einen Elendsgürtel um die Städte ziehen.
Das sind - in groben Zügen - die Elemente dessen, was ich die große historische Krise nenne, in der sich Kolumbien befindet. Die internationalen Foren von Sao Paolo und Porto Alegre, die erst kürzlich stattfanden oder die Nachbarregierungen in Brasilien, Venezuela und Ecuador, die unmittelbar von den kolumbianischen Ereignissen betroffen sind - sie alle fordern beharrlich ein Ende des Schmerzes und des Todes in unserem gequälten Land. Längst wird auch nicht mehr, wie bisher, von Verhandlungen hinter verschlossenen Türen gesprochen, die nicht zuletzt von den kolumbianischen Medien so sehr diskreditiert worden sind. Retten kann uns nur ein "Demokratisches Abkommen", das die oligarchischen Bündnisse zur Herausgabe der Pfründe vergangener Epochen zwingt und ein für alle Mal mit dem Kreislauf von Koalition, Gewalt und neuer Koalition aufräumt.
Der Autor war Vermittler bei den Friedensgesprächen zwischen der Guerilla und Regierung Kolumbiens.
(*) Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, älteste Guerilla-Armee des Landes, etwa 20.000 Mitglieder.
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