Der ganz normale Ausnahmezustand

Bürger oder Feind? Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wird die Bundesrepublik von einem Vorsorge- und Wohlfahrtsstaat immer mehr zum Not- und Sicherheitsstaat umgebaut

In den fünf Jahren nach "Nine Eleven" hat sich in der Berliner Republik außen- und innenpolitisch eine Renaissance des Freund-Feind-Denkens vollzogen. Die alte Bonner Republik, bis in die achtziger Jahren als "Modell Deutschland" weithin anerkannt, stand für soziale Befriedung nach innen und Entspannung nach außen. Der Ausbau der Bundesrepublik zum sozialen Wohlfahrtsstaat und die faktische Undurchführbarkeit eines Krieges in Folge des atomaren Patts sorgten für eine Friedensperiode von über 40 Jahren. Die innere und äußere "Entfeindung" (Erhard Eppler) ist jedoch nicht erst seit dem 11.9., sondern bereits seit dessen Spiegelbild, dem 9.11., in Auflösung begriffen. Seit 1989 und dem Beginn des Untergangs der Sowjetunion ist das perverse Gleichgewicht des Schreckens beendet. Doch erst mit "Nine Eleven" wurde die ganze Radikalität der neuen Lage sichtbar: Am 11. September 2001 schlug die Stunde Carl Schmitts.

Der globale Terrorismus al Qaidas bedeutet in der Tat die Erklärung fundamentaler Feindschaft. "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod", steht seither für unbedingte Tötungs- wie Todesbereitschaft. Doch anstatt auf diese mörderische Haltung mit polizeilichen Maßnahmen zu reagieren, wertete der Westen seine Gegner zu Kombattanten auf, indem er den Kriegszustand ausrief. Die militärischen Reaktionen zielen seitdem darauf, den Feind radikal auszuschalten, nötigenfalls bis zu dessen Vernichtung. Dies zeigte sich, beginnend mit dem "Krieg gegen den Terror", zunächst in einer veränderten Diktion der politisch Verantwortlichen, die seither auch innenpolitisch immer mehr gesetzliche Umsetzung findet.

Besonders deutlich wurde diese Tendenz im radikalen Jargon des früheren Innenministers Otto Schily. Dessen Aussage im Spiegel "Wer den Tod liebt, kann ihn haben" (April 2004) implizierte die Übernahme des Freund-Feind-Denkens und gleichzeitig die Abschaffung des absoluten Tötungsverbots des Grundgesetzes. Verfassungsrechtliche Standards wurden nun an vielen Fronten in Frage gestellt, insbesondere in der bis heute anhaltenden Debatte über die Zulässigkeit von Folter, aber zunehmend auch im Straf- und Asylrecht.

Ausgehend von der "Daschner-Debatte", ob die Polizei in Extremsituationen zu Foltermethoden greifen dürfe, die von Michael Wolffsohn umgehend auf die Terror-Frage übertragen wurde, sind die relativierenden Überlegungen zur Folter unter dem Eindruck der Terrorgefahr bis in die Rechtswissenschaft vorgedrungen. Die Neukommentierung des Menschenwürde-Artikels im maßgeblichen Grundgesetzkommentar von Theodor Maunz hält es "im Einzelfall" für möglich, "dass die Androhung oder Zufügung körperlichen Übels (...) nicht den Würdeanspruch verletzen." Für den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde ist dies ein "Epochenwechsel" in der Geschichte der Bundesrepublik, nämlich das Ende der Unantastbarkeit der Menschenwürde.

Noch erheblich weiter geht seit geraumer Zeit der Bonner Strafrechtsprofessor Günther Jakobs. Indem Jakobs zwischen Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht unterscheidet, schafft er systematisch Zonen völliger Rechtlosigkeit. Während das Bürgerstrafrecht Täterinnen und Täter weiterhin als Mitglied der Rechtsgemeinschaft achtet, setzt das Jakobsche "Feindstrafrecht" die Achtung der Menschen als Rechtspersonen für eine bestimmte Gruppe von Menschen gezielt außer Kraft. Als Feind der Rechtsordnung verwirkt der Terrorist, aber auch der Hangtäter oder Berufsverbrecher seinen Anspruch, als Person behandelt zu werden. Er existiert juristisch nur noch als rechtloses Individuum im Hobbesschen Naturzustand. Im Umgang mit diesen Nicht-Personen ist dem Staat nahezu alles erlaubt. In der Stunde der Not müsse der Normstaat, "wenn man nicht untergehen will", so Jakobs mit Blick auf den 11. September, im Umgang mit den erklärten Feinden seiner Rechtsordnung zum "gebändigten Krieg" übergehen.

Diese Unterscheidung zwischen Bürger und Feind angesichts des postulierten Kriegszustandes steht in völligem Widerspruch zu den Prinzipien des Grundgesetzes, wonach Personen ungeachtet ihrer Gesinnung die Menschenwürde zusteht - entspricht aber exakt der Auffassung der gegenwärtigen US-Regierung, wonach ein Präsident in Kriegszeiten Feinde des Staates, so genannte "enemy combatants", ohne Kriegsgefangenenstatus festsetzen darf, also ohne weitere Begründung und ohne Zugang zu den Instrumenten des Völkerrechts, wie dies in Guantanamo und an zahlreichen anderen Orten der Welt geschieht. Wenn aber gleichzeitig der Krieg gegen den Terror als unbegrenzt definiert wird, wird der Zustand der Rechtlosigkeit verewigt; die Rechtsfreiheit wird System. Der Rechtsstaat wird damit dauerhaft zum unkontrollierbaren "Maßnahmestaat" (Ernst Fraenkel), der allein vom Ausnahmezustand her bestimmt wird.

Diese Tendenz zu einer zunehmenden Verfeindung im permanenten Ausnahmezustand ist jedoch keineswegs USA-spezifisch, sondern gilt auch für Deutschland und Europa. Während jedoch für die USA der Krieg wieder zum Weltanschauungskrieg wird, genügt dem europäischen Kontinent bisher ein wesentlich "sachlicheres", nämlich weit weniger ideologisches Feindverständnis. Insbesondere kommt dies im herrschenden Asylrecht, genauer: in der Praxis der Asylrechtsverhinderung zum Ausdruck. Die zunehmende Abschottung Europas funktioniert faktisch als permanente Feind-Erklärung - ohne dass der Feind überhaupt noch als ein solcher bezeichnet würde. Der potenzielle "Eindringling" wird lediglich daran gehindert, zu uns zu gelangen - mit der Begründung, dass Europas Existenzrecht, sprich: sein wirtschaftliches Überleben, sonst in Frage gestellt würde. Der potenzielle Asylant wird damit zum Feind ohne explizite Feind- oder Kriegserklärung, sondern durch bloße Verwaltungspraxis. Faktisch bewirkt diese Abschottung Jahr für Jahr ungezählte Todesurteile - ohne dass die westliche Welt daran Anteil nähme. Insofern geht auch diese Politik, ganz im Sinne Carl Schmitts letztlich auf Leben und Tod, wie Otto Schily es bereits gegenüber den Terroristen ankündigte.

Insgesamt erleben wir in der Bundesrepublik seit "Nine Eleven" einen fundamentalen Paradigmenwechsel im Sicherheitsdiskurs: vom ehemals vorherrschenden Prinzip sozial-ökonomischer Sicherheit zum Primat polizeilicher Sicherheit. Der westliche Staat als Vorsorge- oder Wohlfahrtsstaat wird immer mehr zum reinen Not- und Sicherheitsstaat und zudem droht der Rechtsstaat durch maßnahmestaatliche Verfahrensweisen ausgehöhlt zu werden. Bisheriger Höhepunkt dieser fatalen Tendenz war ohne Frage das verfassungswidrige Luftabwehrgesetz, das unbescholtene Bürger im Terrorfall zum Abschuss freigab und damit fundamental gegen die Menschenwürde verstieß.

Ungeachtet der jüngsten Anschlagsversuche, diente Deutschland den Terroristen bisher vorwiegend als "Schlaf- und Rückzugsraum". Die eigentliche Bewährungsprobe auf die Qualität ihrer Rechtsstaatlichkeit dürfte der Republik deshalb erst noch bevorstehen. Erst der Ernstfall wird fatalerweise den Beweis erbringen, ob sich doch noch die Einsicht des früheren Verfassungsrichters Ernst Benda durchsetzen wird, dass der Kampf gegen den Terror "nicht gegen den Rechtsstaat, sondern nur mit ihm" zu gewinnen ist.

Die wachsende Bereitschaft der Bevölkerung wie auch eines erheblichen Teils der regierenden Parteien, unter anderem das absolute Folterverbot zum Zwecke der Terrorverhinderung abzuschaffen, lässt für die Zukunft jedenfalls nichts Gutes ahnen. Noch ist keineswegs ausgemacht, ob die Bundesrepublik in Zeiten des Terrors als Rechtsstaat wird bestehen können - oder ob sich auch in Deutschland die Radikalisierung im Denken des Angegriffenen endgültig durchsetzt.


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