Der Tanz beginnt

Lockerung Wir stehen am heikelsten Punkt der Corona-Krise: Jeder hält sein eigenes Interesse für das wichtigste. Warum das so gefährlich ist
Ausgabe 17/2020
Immer locker aus der Hüfte: Der Fußgruß wird uns wohl noch eine Weile begleiten
Immer locker aus der Hüfte: Der Fußgruß wird uns wohl noch eine Weile begleiten

Foto: David Gannon/AFP/Getty Images

Mit dieser Woche ist die Corona-Krise in ihre zweite, vielleicht schon entscheidende Phase eingetreten – den mehr oder weniger geregelten Austritt aus dem Lockdown. Die erste Phase, Hammer genannt, war dagegen ein Kinderspiel, denn die fundamentale Kontakt- und Öffnungssperre betraf, wenn auch hammerhart, alle grundsätzlich gleichermaßen. Auch deshalb erlebten wir eine für Deutschland einmalige Solidarität. Für eine historische Sekunde von vier Wochen war eine Bevölkerung in Friedenszeiten bereit, ihre Individualinteressen voll hinter das Gemeinwohl, den Schutz von Leben und Gesundheit der potenziellen Kranken, zurückzustellen.

Und das mit Erfolg: Das angestrebte „flatten the curve“, das Abflachen der Kurve, ist bisher gelungen. Zugleich gelang es den Regierungen auf Bundes- wie auf Landesebene, durch entschiedenes Handeln enorme Popularitätsgewinne zu erzielen, während die Populisten sich selbst zerfleischten und in Verschwörungstheorien ergingen. Damit erlebten wir einen bemerkenswerten Transfer bereits verloren geglaubter Autorität zurück zum Nationalstaat und zu den Volksparteien.

Jetzt aber beginnt die zweite Phase, auch Tanz genannt, das schrittweise Verlassen der härtesten Einschnitte. Und es droht in der Tat ein heißer Tanz zu werden. Denn sofort beginnt das große Hauen und Stechen, der harte Clash der Individualinteressen. Ob Kaufleute oder Künstler, Eltern oder Gläubige, Schüler oder Sportler: Alle wollen wieder am normalen Leben teilhaben; wer wollte es ihnen auch verübeln.

Wenn es aber stimmt, worauf alle Experten hinweisen – und alles spricht dafür –, dass wir noch immer am Anfang dieser Pandemie stehen, dann ist damit der heikelste Punkt der Krise erreicht. Denn jetzt beginnt für die Entscheidungsträger der hochkomplexe Prozess der Abwägung. Wie hältst Du’s mit den Grund- und Menschenrechten?, lautet die Gretchenfrage. Was wiegt schwerer: die Gewerbe- oder die Religionsfreiheit, die Versammlungsfreiheit oder der Schutz der Gesundheit?

Nur eines steht dabei fest: Fast alle Betroffenen halten ihr eigenes Recht für das wichtigste. In gewisser Weise, so die Ironie der Geschichte, ist damit der konsensuale Ausnahmezustand schon wieder beendet und die politische Normalität zurückgekehrt. Die Politiker werden wieder zu Getriebenen, allerdings unter dramatisch verschärften Vorzeichen. Denn immer geht es jetzt ums Ganze: die Existenz der Betroffenen, ihre Grund- und Menschenrechte.

In den nächsten Wochen und Monaten muss sich erweisen, ob der Autoritätsgewinn der etablierten Politik von Dauer ist – oder ob er ihnen im Verlauf der schwierigen Abwägungsprozesse unter den Händen zerrinnt. Denn zugleich wittern die Rechtspopulisten bereits die Chance auf ein Comeback. Mit ihrer Fundamentalkritik an allen Anti-Corona-Maßnahmen könnten sie bei einer Bevölkerung punkten, die der harten Belastungen zunehmend überdrüssig wird.

An dieser hochsensiblen Stelle hat die Kanzlerin versucht, dem munteren Exit-Treiben Einhalt zu gebieten, und dabei doch nur mehr Öl ins Feuer gegossen – mit ihrer Kritik an den angeblichen „Öffnungsdiskussionsorgien“. So richtig es ist, eindringlich vor verfrühten Öffnungen zu warnen, so falsch war es, dies mit einer Kritik der Diskussion an sich zu verbinden. Denn mit dieser Absage an die Debatte hat Merkel ihre alten Kritiker auf den Plan gerufen. Damit zieht sie sich erneut den Vorwurf eines Diskussionsverbots durch vermeintliche Alternativlosigkeit zu.

Denn dahinter lauert der eigentliche Grundkonflikt: Während die Kanzlerin seit Beginn der Krise an die Einsicht und Mündigkeit der Bürger appelliert, werfen andere ihr geradezu lustvoll deren Entmündigung vor. An der Spitze die Bild-Zeitung, die seit Tagen dem aufkommenden Protest eine Stimme verleiht, indem sie „Wir sind mündige Bürger“ postuliert und die eingeschränkten Grundrechte regelrecht zurückfordert.

Hier aber liegt die eigentliche Verkürzung: Diejenigen, die jetzt in populistischer Manier auf ihre eigene Mündigkeit pochen, verdrängen, dass es darum derzeit gar nicht geht. Natürlich kann der mündige Bürger auch über seine Gesundheit entscheiden, und er tut dies tagtäglich, etwa indem er raucht oder übermäßig trinkt. Er darf das auch, weil er damit normalerweise keine Krankheit in Kauf nimmt, die zugleich über das Leben der anderen entscheidet. Das aber kann in Corona-Zeiten ganz schnell der Fall sein, wenn die Ärzte in den Krankenhäusern, wie in Italien oder New York, im Falle der Triage tatsächlich über Tod und Leben derer entscheiden, die sie gerade noch behandeln können oder eben sterben lassen müssen.

Diese für Deutschland dank des erfolgreichen Shutdowns unsichtbare Gefahr wird von den medialen Öffnungs-Apologeten leichtfertig verdrängt. Und zwar in dem angenehmen Wissen, dass die politische Verantwortung ja eh die anderen tragen müssen. Und mit ziemlicher Sicherheit wird die Bild-Zeitung schon morgen die erste sein, die die Regierenden dafür anklagt, wenn die Infektionszahlen wieder dramatisch hochgehen.

Albrecht von Lucke ist Politikwissenschaftler, Jurist, Buchautor sowie Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik

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