Scheitern als Chance

Sozialdemokratie Warum Martin Schulz jetzt der Richtige ist: Es geht schlicht um das Überleben der SPD
Ausgabe 04/2017
Willy Brandt hatte noch eine überzeugende sozialdemokratische Erzählung, der Parteinachwuchs tut sich damit schwer
Willy Brandt hatte noch eine überzeugende sozialdemokratische Erzählung, der Parteinachwuchs tut sich damit schwer

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Das hat es in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Sozialdemokratie noch nicht gegeben: Ein Parteivorsitzender, ja sogar der nach Willy Brandt am längsten amtierende, tritt nach sieben Jahren zurück, weil er sich zum zweiten Mal nicht in der Lage sieht, die Bundestagswahl als Spitzenkandidat für seine Partei zu gewinnen. Gewiss, objektiv betrachtet kann die SPD Sigmar Gabriel dankbar sein. Sein Rücktritt war schlicht der Einsicht in die Tatsache geschuldet, dass er bis heute nicht das Vertrauen der Bevölkerung genießt. Seine Niederlage gegen Merkel wäre programmiert gewesen. Deshalb war sein Rücktritt konsequent und richtig und ein letzter Dienst an seiner Partei.

Und dennoch bleibt es ein ungeheures Scheitern, gerade gemessen an seinem großen Vorbild Willy Brandt. Dieser musste zweimal, 1961 und 1965, bei einer Bundestagswahl verlieren, bevor er 1969 zum ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik werden konnte. Sigmar Gabriel kommt am bloß aufgeschobenen Ende seiner Karriere, denn das bedeutet der Rückzug auf den Posten des Außenministers, nicht einmal auf einen Versuch. Stattdessen überließ er das Scheitern gegen Angela Merkel zweimal einem anderen, nach Peer Steinbrück nun also Martin Schulz. Dabei geht es diesmal um weit mehr – „um das Überleben der SPD“, wie Gabriel zu Recht vor der Fraktion feststellte. Nämlich darum, den verhängnisvollen Fall unter die 20-Prozent-Marke zu stoppen.

Bis heute hat sich die SPD nicht von den neoliberalen Verheerungen der Schröder-Ära erholt. Und hier liegt das eigentliche Scheitern Sigmar Gabriels. Seine Zeit als Parteivorsitzender begann Ende 2009 nach dem historisch schlechtesten Wahlergebnis der SPD, für Frank-Walter Steinmeier, den zukünftigen Bundespräsidenten (die Geschichte kennt eben keine Gerechtigkeit). Damals gab Gabriel auf dem Dresdner Parteitag für die SPD das Versprechen ab, anders als Schröder der ominösen Neuen Mitte nicht länger hinterherzulaufen: „Die politische Mitte in einem Land hat der gewonnen, der in den Augen der Mehrheit der Menschen die richtigen Fragen und die richtigen Antworten bereithält.“ Willy Brandt habe gewusst, „dass man diese Deutungshoheit erobern muss: von links, mit emanzipatorischen Antworten auf die Herausforderungen der Zeit“.

Genau an diesem Punkt ist Sigmar Gabriel gescheitert. Ihm gelang es – trotz aller Korrekturen an der Agenda 2010 – nicht, einen neuen roten Faden zu spinnen. Speziell die Übernahme des Wirtschaftsministeriums – inklusive CETA, gestiegener Rüstungsexporte und der Absage an die Vermögenssteuer – hat ihm und der SPD massiv geschadet.

Nun also soll es Martin Schulz richten. Dieser wird zunächst versuchen müssen, der verunsicherten Partei wieder Mut einzuflößen. Innenpolitisch ist er ein weithin unbeschriebenes Blatt. Wie Merkel ist er ein überzeugter Europäer. Diese Europalastigkeit, sein großes Problem in nationalistischen Zeiten, ist auch seine wohl einzige Chance. Nur wenn es ihm gelingt, in diesem Jahr der existenziellen Bewährung für die EU – eingeklemmt zwischen Trump und Putin – eine überzeugende sozialdemokratische Erzählung gegen das Merkel’sche Austeritäts- und Verelendungseuropa aufzubieten, könnte er der Kanzlerin doch noch gefährlich werden. Ab heute hat er, innen- wie außenpolitisch, acht Monate dafür Zeit. Er wird sie brauchen.

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