Es ist schier vertrackt: Die SPD kann offensichtlich machen, was sie will, und kommt dabei doch keinen Zentimeter voran. Obwohl an der Regierung beteiligt und mit Finanzminister Olaf Scholz, Arbeitsminister Hubertus Heil und Familienministerin Franziska Giffey auch durchaus prominent vertreten, profitiert sie nicht von den guten Umfragewerten für die Krisen-„Performance“ der GroKo. Im Gegenteil: Die 15 Prozent der SPD in den Umfragen scheinen wie festbetoniert, Gewinner ist allein die Union.
Es ist deshalb von besonderer Ironie, dass – obwohl einige noch mit einem Kanzlerkandidaten Rolf Mützenich liebäugeln – jetzt aller Voraussicht nach Olaf Scholz bei der kommenden Bundestagswahl antreten muss, trotz seiner Niederlage beim Kampf um den SPD-Parteivorsitz. Das wäre das letzte Aufgebot der Schröderianer – nach Steinmeier 2009 und Steinbrück 2013 wäre Scholz der Dritte im Bunde der gescheiterten Agenda-Protagonisten.
Doch letztlich muss die SPD dankbar sein, dass sich mit Scholz wenigstens einer aus der verzagten Führungsgarde bereitfindet, die absehbare Niederlage einzuholen – wobei er sich scheinbar unirritierbar der Illusion hingibt, tatsächlich gewinnen zu können. Nur so ist sein Versuch zu begreifen, sich im Spiegel in die Tradition eines Helmut Schmidt zu stellen, indem er im Geiste Max Webers mit seinem angeblichen „Charisma des Realismus“ kokettiert.
Man kann dem Hanseaten eigentlich nur Hochachtung für seine Opferbereitschaft zollen. Andererseits muss sich Scholz den Vorwurf gefallen lassen, dass er selbst für das aktuelle Elend an der Parteispitze gesorgt hat. Hätte er nicht für den Parteivorsitz kandidiert, dann hätten die Jusos nicht derartig gegen ihn und für „Eskabo“ mobilisiert. Viel spricht dafür, dass in diesem Fall heute mit Boris Pistorius und Petra Köpping ein weit stärker in die Mitte integrierendes West-Ost-Duo an der SPD-Spitze stünde.
Doch wie sagte einst ein bedeutender SPD-Wahlverlierer: „Hätte, hätte, Fahrradkette.“ Alles vergossene Milch. So aber dürfte die SPD, so nicht erneut Grundstürzendes passiert, bis auf Weiteres chancenlos bleiben.
Ein wesentlicher Grund dafür: Sosehr Scholz das 130 Milliarden Euro schwere Konjunkturprogramm als seinen ganz eigenen großen „Wumms“ ausgibt, so wenig wird er – trotz seiner guten Umfragewerte – als der entscheidende Repräsentant seiner Partei wahrgenommen. Denn seit der Wahl ihres neuen Parteivorsitzenden-Duos Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans betreibt die Partei gemeinsam mit dem neuen Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich einen klaren Linkskurs, um auf diese Weise einer neuen rot-rot-grünen Koalition näher zu kommen.
Faktisch aber – und das ist das eigentliche Elend der deutschen Linken im Wahljahr 2021 – erreicht sie damit genau das Gegenteil: Sie verengt das eigene Wählerspektrum und minimiert damit das Wählerpotenzial von Rot-Rot-Grün.
Ob Mützenich den anerkannten Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels durch die bundeswehrunerfahrene Eva Högl ersetzt oder ob er das Ende der nuklearen Teilhabe und damit eine Lockerung des transatlantischen Bündnisses fordert, ob Walter-Borjans einer besonderen Förderung der Automobil- und Zulieferer-Branche eine Absage erteilt oder ob Esken der Polizei „latenten Rassismus“ vorwirft: All diese Positionen haben strategisch eines gemeinsam – sie zielen eindeutig auf eine eher linke, sozial-ökologische Wählerschaft. Für ein gemeinsames rot-rot-grünes Projekt ist dieser Ansatz jedoch desaströs. Wenn die SPD grüner sein will als die Grünen und linker als die Linkspartei, kannibalisieren sich die drei Parteien gegenseitig – und überlassen die Mitte faktisch der Union.
Besonders deutlich zeigt sich das strategische Dilemma der SPD an ihrer aktuellen Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften, insbesondere mit der IG Metall: Gerade weil ihr der gewaltige Protest gegen den dürftigen Klimakompromiss noch immer anhängt, wollte sie diesmal bei der konkreten Ausgestaltung des Konjunkturpakets dem Gemeinwohl und damit der Ökologie den Vorzug vor den Partikularinteressen der Automobilindustrie geben.
Andererseits verfügt die SPD mit der gewerkschaftsnahen Facharbeiterschaft fast über ihre letzte, wenn auch immer kleiner werdende Bastion. Will sie nicht endgültig bedeutungslos werden, darf sie diese nicht auch noch verprellen. Schließlich gelang es ihr nach der Agenda 2010 nur mit großer Mühe, die gewaltige Entfremdung von den Gewerkschaften zu überwinden. Deswegen ist der neuerliche Bruch mit der IG Metall so gefährlich.
Geistig in der Opposition
Nicht weniger fatal, gerade in der gesellschaftlichen Gesamtwahrnehmung, ist die Auseinandersetzung von Saskia Esken mit der Polizei. Von ihrer Fern-Kritik per Twitter nach den Polizeieinsätzen an Silvester in Leipzig-Connewitz über ihr reichlich undifferenziertes Bekenntnis zum Antifaschismus („58 [Jahre] und Antifa. Selbstverständlich“) bis hin zum Vorwurf des „latenten Rassismus“ gegenüber der Polizei entsteht der Eindruck, dass die SPD-Vorsitzende sich nicht primär als (durchaus kritische) Vertreterin einer Regierungspartei und damit auch des staatlichen Gewaltmonopols versteht, sondern bereits als die einer Oppositionspartei.
Mit dieser manifesten Sehnsucht nach Opposition kommen in der SPD drei Jahre der Selbstbeschäftigung und -zerstörung zum Abschluss – beginnend mit der so euphorisch gestarteten und dann kläglich gescheiterten Kanzlerkandidatur von Martin Schulz 2017, über das ewige Hü und Hott gegenüber der Großen Koalition 2018 bis hin zum Abgang von Andrea Nahles und zur Wahl der GroKo-Gegner Esken und Walter-Borjans Ende 2019.
Für den kommenden Wahlkampf – der ganz entscheidend unter Sicherheits- und Stabilitätsvorzeichen geschlagen werden wird – ist dieses Erscheinungsbild verheerend, zeigt es doch: Die SPD ist zerrissen und bleibt bis auf Weiteres ein unsicherer Kantonist. Wie sie aus dem Tal der Tränen herauskommen und eines Tages wieder die 20-Prozent-Marke erreichen könnte, ist derzeit völlig schleierhaft. Gerhard Schröder hat die SPD denn auch bereits abgeschrieben: Die nächste Regierung werde schwarz-grün, so der Ex-Kanzler ohne jede Rücksicht auf die eigene Partei.
Angesichts dieser völlig derangierten SPD wird zugleich das eigentliche Problem hinter der herrschenden linken Alternativlosigkeit deutlich: Bis heute gibt es – trotz wiederholter Anläufe speziell vor Bundestagswahlen – keinerlei arbeitsteiliges Denken zwischen SPD, Grünen und Linkspartei. Wenn eine linke Alternative in gut einem Jahr überhaupt noch eine Chance hätte haben sollen, wäre es längst darauf angekommen, strategisch koordiniert zu agieren. Die SPD müsste die (Fach-)Arbeiterschaft binden, die Grünen das ökologisch-aufgeklärte Bürgertum und die Linkspartei auch die prekär Beschäftigten, und zwar durchaus auch jene mit tendenziell autoritärer, AfD-naher Haltung.
Doch stattdessen kämpft man weiter gegeneinander – und zwar um fast dieselbe, zunehmend kleiner werdende linke Klientel. Ohne eine SPD aber, die auch die Wählerinnen und Wähler der Mitte abholt, wird es keine linken Regierungsmehrheiten geben. Denn am linken Rand ist für Rot-Rot-Grün kein zusätzlicher Blumentopf zu gewinnen.
Hier aber liegt die eigentliche Ironie der Geschichte: Vor 20 Jahren verprellte die SPD unter Schröder die Arbeitnehmerschaft mit ihrem neoliberalen Ruck nach rechts und verlor massiv an die Linkspartei – heute droht ihr genau das Gleiche mit ihrem unsensiblen Linksruck zu gelingen, nur diesmal mit der Union als Profiteur.
Genau deshalb, um die Mitte nicht vollends abzuschrecken und abzuschenken, muss es Olaf Scholz nun machen. Immerhin begreifen das inzwischen – notgedrungen – auch die Linken in der SPD. Teile der Parteikonservativen gehen allerdings längst weiter und fordern Esken und Walter-Borjans direkt zum Rücktritt zugunsten von Scholz auf – unter anderem die Parteilegende Herbert Schmalstieg, der langjährige Bürgermeister von Hannover. Das aber würde den gerade mühsam hergestellten Burgfrieden zwischen den Parteilinken und den rechten Seeheimern wieder sprengen. Denn das ist das eigentliche strategische Problem der SPD: Die Parteirechte um Scholz ist zu schwach zum Durchmarsch, und die Parteilinke ist zu schwach für ein attraktives Regierungsangebot.
Der stille Kevin
Angesichts dieser Blockade wird es vor allem auf einen ankommen – auf den stellvertretenden Parteivorsitzenden Kevin Kühnert. Gemeinsam mit seinem Kumpel, dem Generalsekretär und Seeheimer Lars Klingbeil, muss er die Partei einen und ihr zugleich eine echte Machtperspektive eröffnen – schon mit Blick auf das Wahljahr 2025. Jetzt aber muss Kühnert den Genossen Jusos erst einmal beibringen, dass sie nicht nur einen eben noch hart bekämpften Kandidaten Scholz akzeptieren, sondern sogar für ihn Wahlkampf machen müssen. Denn andernfalls stünde auch Kühnerts Einzug in den Bundestag auf der Kippe. Man darf daher gespannt sein, ob und wie dem Juso-Vorsitzenden dieses strategische Kunststück gelingt.
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