Plötzlich Stiefmutter

Jubiläum Seit zehn Jahren regiert Angela Merkel. Ihre Flüchtlingspolitik lässt die Deutschen ängstlich werden. Ist das der Wendepunkt?
Ausgabe 48/2015
Merkel hatte sich ihr Regierungsjubiläum wahrscheinlich anders vorgestellt
Merkel hatte sich ihr Regierungsjubiläum wahrscheinlich anders vorgestellt

Foto: Zick, Jochen-Pool/Getty Images

Nein, so hatte sich Angela Merkel das nicht vorgestellt. Zwei Tage vor ihrem Zehnjahresjubiläum als Kanzlerin wurde sie vom CSU-Chef abgekanzelt wie ein kleines Schulmädchen. Exakt von jenem Horst Seehofer, der noch vor einem halben Jahr die absolute Mehrheit als Ziel der Bundestagswahl 2017 ausgegeben hatte – unter einer Spitzenkandidatin Angela Merkel.

Heute macht Bayerns Ministerpräsident Front gegen die Kanzlerin, als wäre die CSU die eigentliche Opposition. Und wieder gilt: Wer solche Parteifreunde hat, braucht keine Feinde mehr. Denn was anfangs nur Horst Seehofers Position war, haben auch andere längst übernommen. Die Machtbasis in ihrer eigenen Partei, der CDU, zerbröselt Merkel unter den Händen.

„Kontrollverlust“, „Staatsversagen“, ja „Landesverrat durch Grenzöffnung“, lauten die Vorwürfe. Es zeigt sich: Merkels Macht resultiert nicht primär aus eigener Kraft, sondern vor allem aus der Schwäche ihrer Gegner. Heute ist nämlich nicht die Linke, aus SPD und Linkspartei, die eigentliche Opposition im Lande, sondern die Rechte, und zwar jene innerhalb und außerhalb der Union.

Bei Schröder bedanken

Tatsächlich packt Horst Seehofer die Kanzlerin an ihrer schwächsten Stelle, nämlich am erodierenden Vertrauen und dem mit Merkel (vormals) assoziierten Sicherheitsversprechen. Wie der Historiker Eckart Conze in seiner Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nachweist, war die „Suche nach Sicherheit“ stets der Schlüssel zum politischen Erfolg – von Konrad Adenauer über Helmut Schmidt bis Helmut Kohl. „Ohne Sicherheit ist alles nichts“ hat sich tief eingeschrieben in die deutsche Mentalität, als Lehre des katastrophalen 20. Jahrhunderts, aber auch als Überbleibsel weit älterer, autoritärer Traditionen. Die einzige, wenigstens partielle Ausnahme stellte Willy Brandt dar, mit seinem Anspruch, mehr Demokratie zu wagen.

Merkel gelang es, dieses Sicherheitsversprechen ganz zu besetzen. Noch den letzten Wahlkampf bestritt sie quasi mit nur einem einzigen Satz: „Sie kennen mich.“ Das bedeutete im Kern: „Ich lasse Sie in Ruhe. Mit mir verändert sich nichts.“ Denn, so der durchaus gewollte Subtext: „Ich stehe inhaltlich für nichts – jedenfalls nicht für radikale Veränderung.“ Mit dieser gezielten Entpolitisierung traf Merkel genau die Neigung der durch die Schröder’sche Agenda-Politik genug „reformierten“ Deutschen. Durch Hartz IV war Reform zu einer Drohvokabel und aus der einstigen Aufstiegs- eine Abstiegsgesellschaft geworden.

Merkel konnte sich bei Schröder bedanken: Schließlich hatte dieser die neoliberale Spaltung der Gesellschaft – samt Entlastung der sozial Starken – für sie betrieben. Stattdessen setzte sie nun ganz auf Beruhigung. Faktisch kam es zu einem Pakt zwischen Kanzlerin und Mehrheitsbevölkerung: Wenn du uns mit Politik verschonst, lassen wir dich weitermachen.

Merkels primäres Ziel: durch Anpassung an den herrschenden Zeitgeist am besten jede Opposition im Lande überflüssig zu machen. So saugte die Kanzlerin, nicht zuletzt mangels eigener Überzeugungen, alles auf, was jemals in mehrheitsfähiger Weise gefordert wurde, von Atomausstieg und Energiewende bis Mindestlohn und Mietpreisbindung. Diese Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ korrespondierte glänzend mit der zunehmenden Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber der Politik. Zehn Jahre lang ging diese Strategie immer besser auf, wurde das Land im Merkel-Modus regiert – trotz aller Krisen. Denn für diesen Fall verfügte die Kanzlerin über eine perfekte Wunderwaffe: Peter Altmaier, Kanzleramtsminister und fleischgewordene vertrauensbildende Maßnahme.

Doch was nach dem GAU von Fukushima wunderbar geklappt hat, funktioniert heute nicht mehr. Auch ein Altmaier kann angesichts der Flüchtlingsströme kein neues Vertrauen für das Kanzleramt mehr akkumulieren.

Tatsächlich steht die Flüchtlingsfrage für eine kategoriale Zäsur in der Merkel’schen Kanzlerschaft. Ihr „Sie kennen mich“ geht nicht mehr auf. Bisher wurde das Adenauer’sche „Keine Experimente“ von Angela Merkel perfekt intoniert. Aus „Mutti“, einst abfälliges Schimpfwort, wurde mehr und mehr ein Markenzeichen: Deutschland magst ruhig schlafen, denn Mutti hält Wacht.

Positionslos, inhaltsleer

Doch Tempi passati: Plötzlich steht Mutti nicht mehr für „Keine Experimente“, und für das „Fahren auf Sicht“, sondern für eine immense Herausforderung an die Deutschen – die Integration von bis zu einer Million Neubürgern. Heute fragen sich viele Bürger ängstlich: Was will Mutti mit dem Land? Wofür steht sie? Hier zeigt sich Merkels vielleicht größte Schwäche: Ob ihrer Positionslosigkeit, ihrer Undurchschaubarkeit und Inhaltsleere ist sie für viele bis heute eine Fremde geblieben. Diese Fremdheit wird noch durch ihren kalten Verstand gesteigert. Was eben noch von Vorteil war – ihre Nüchternheit –, gereicht ihr jetzt zum Nachteil.

Nun kommen all jene Vorbehalte zusammen, die sie von Anfang an begleitet haben. Merkel wird wieder als die „Fremde aus Anderland“ (so die einstige Kohl-Beraterin Gertrud Höhler) wahrgenommen, die heimlich daran arbeitet, die Bundesrepublik zu untergraben. Besonders infam spielt mit diesen Ängsten Welt-Herausgeber Stefan Aust. Merkels „Wir schaffen das“ erinnere, so der Ex-Spiegel-Chef, an die vergeblichen Siegesparolen des zweiten deutschen Staates namens DDR. Was Aust mit seinen DDR-Assoziationen meint, liegt auf der Hand: Merkel schafft Deutschland ab, jedenfalls jenes, das wir kennen.

Plötzlich zeigt sich hier, so die Unterstellung, nicht länger die gütige Mutti, sondern die böse Stiefmutter. All das bedeutet keineswegs, dass Merkel nicht schon davor hart sein konnte. Das kann sie durchaus, wie die lange Liste ihrer innerparteilichen (männlichen) Konkurrenten zeigt, die von ihr vernichtend geschlagen wurden, wenn auch zumeist ob ihres eigenen Unvermögens. Auch mit politischen Grausamkeiten operierte Merkel durchaus – aber nur, wenn sie andere trafen, etwa in der Griechenland-Krise.

Den innerdeutschen Konflikt dagegen zu vermeiden, war Merkels Lehre aus dem GAU ihres Leipziger Parteitags 2003. Damals hatte sie dem Land massive neoliberale Einschnitte verkündet, um prompt 2005 beinahe noch gegen Gerhard Schröder zu verlieren. Seither verschont sie den deutschen Wähler und lässt lieber andere (finanziell) bluten.

Doch nun ist diese Strategie des Krisenexports an ein Ende gekommen. In der Fluchtfrage kumulieren alle Krisen – Irak, Nahost, Griechenland – und schlagen auf die deutsche Innenpolitik zurück. Das verlangt eine fundamentale Veränderung der Merkel’schen Strategie. Die Bundeskanzlerin kann die Probleme nicht weiter auslagern, offensives Handeln ist gefragt. Nun kommt sie offenbar an die Grenzen ihrer Macht – innerhalb der Europäischen Union, gegenüber der egoistischen Abwehrfront von Ungarns Viktor Orbán bis Polens Jarosław Kaczyński, aber auch außerhalb der Gemeinschaft, etwa gegenüber Tayyip Erdoǧan, dem türkischen Präsidenten.

Immerhin, ein entscheidendes Plus bleibt Angela Merkel: Noch ist der Brutus nicht auszumachen, der die Cäsarin aus dem Wege räumen wollte – und könnte. Im Gegenteil: Es könnte sein, dass der Souverän ihr – wieder einmal – unverhofft unter die Arme greift. Im März nächsten Jahres stehen Wahlen an, die Aufschluss über die Lage im Lande geben werden. Sollte der Alternative für Deutschland der Einzug in die Landtage von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gelingen und damit die Eroberung der ersten westdeutschen Flächenstaaten, wäre das einerseits ein Dammbruch. Denn dann hätte sich rechts von der Union eine neue Partei etabliert. Andererseits, so die Ironie der Geschichte, würde der AfD-Erfolg in beiden Ländern eine grün-rote beziehungsweise rot-grüne Koalition unmöglich machen. Die Union wäre der lachende Dritte. Ihr würden mit einem solchen Wahlausgang gleich zwei neue Ministerpräsidenten beschert. Schon deshalb dürfte der Aufstand gegen Angela Merkel und ihre Politik erneut ausbleiben. Und sollte der Alternative für Deutschland der Einzug nicht gelingen – dann sowieso.

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