So schnell kann es gehen: Bis gestern galt in der Corona-Krise nur eine Devise: „Keine Experimente“. Doch jetzt heißt es: „Mehr Schweden wagen“. Angela Merkel wurde das Heft des Handelns förmlich aus der Hand gerissen. Der von ihr angestrebte geregelte Ausstieg aus dem Lockdown wurde zu einem Überbietungswettbewerb der um Profilierung ringenden Länderchefs.
Die Bundesländer agieren jedoch ihrerseits keineswegs autonom, sondern als Getriebene ihrer Bevölkerungen, insbesondere ihrer Wirtschaftsbranchen. Das kurzzeitige Primat der Gesundheit weicht damit einem alten: „It’s the economy, stupid“. Denn auf mittlere Sicht drohen die ökonomischen Folgen der Krise ihrerseits massive gesundheitliche Folgeschäden hervorzurufen. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze fürchtet bereits ein zweites 1929. Der Begriff der Depression würde damit seine ganze Doppelbödigkeit entfalten – in medizinischer wie ökonomischer Hinsicht. Die neue Lockerungsphase hat allerdings gewaltige Risiken. Denn aus dem einen großen „V“ für Vorsicht sind nun gleich drei geworden – für Vertrauen, Verantwortung und Vernunft.
Vertrauen wird noch mehr zur entscheidenden Kategorie. Mussten wir uns bisher auf das Berliner Zentrum der Politik verlassen, sollen wir nun den lokalen Gesundheitsämtern vertrauen – und uns selbst als „mündigen Bürgern“. Denn die Verantwortung geht nun auf uns alle über. Wie die vielen Verschwörungsgläubigen zeigen, ist dieses Vertrauen jedoch eine heikle Angelegenheit – zumindest was einen Teil der Bevölkerung angeht.
An dieser Stelle kommt die entscheidende Dimension ins Spiel, nämlich die der Vernunft bei der Krisenbekämpfung – und zwar in zweifacher Weise. Erstens: Wie vernünftig gehen wir selbst mit der Krise um? Halten wir das Distanzgebot konsequent ein? Oder kommt es tatsächlich, wovor bereits jetzt Epidemiologen warnen, zu einer zweiten Welle der Seuche, die dann noch schwerer zu bewältigen wäre? Und zweitens, nicht weniger wichtig: Wird diese Krise politisch vernünftig bewältigt – und eben nicht nur als eine Ad-hoc-Aktion zur Befriedigung von Einzelinteressen?
Zweifel daran sind mehr als angebracht. Denn die Stunde des Föderalismus ist längst zur Stunde der Lobbyisten geworden. Und dabei scheint es vor allem ein Motto zu geben: Wer schreit am lautesten? Hier zeigt sich, dass die Bundesebene keineswegs raus aus dem Geschäft ist. Im Gegenteil: Hinter den Kulissen wird längst über milliardenschwere Kredite für die diversen Branchen verhandelt. Und fatalerweise haben es die organisierten Lobbys hier viel leichter, ihre Interessen in den Hinterzimmern geltend zu machen als etwa eine zivilgesellschaftliche Bewegung wie Fridays for Future, zumal dieser ihr wichtigster Mobilisierungsfaktor – die Straße – genommen ist.
Besonders aktiv, da auch besonders betroffen, ist die deutsche Automobilindustrie, genau wie ihre zahlreichen Zulieferer. Mangels Binnen- und ausländischer Nachfrage stehen Zigtausende von Autos auf der Halde. Längst ist daher wieder von einer Abwrackprämie wie in der Finanzkrise von 2008 die Rede – also ohne ökologische Vorgaben. Genau das aber wäre verheerend, denn hier liegt das zentrale Problem: In der Corona-Krise konkurrieren zwei Philosophien. Die eine, unter anderem vertreten vom Bundesverband der Deutschen Industrie, geht davon aus, dass zunächst alle wirtschaftlichen Folgen von Corona beseitigt sein müssen, bevor man wieder die Klimaprobleme angehen kann. Die andere Philosophie, vertreten vor allem von den Grünen und Öko-Verbänden, drängt hingegen darauf, dass wir alle Krisen gleichzeitig bekämpfen müssen.
Die Forderung, dass wir den Zustand vor der Krise wiederherstellen müssen, ist in der Tat pure Illusion – und zudem eine schädliche. Denn die Folgen von Corona werden Jahre andauern, und zugleich wird die Klimakrise weiter an Schärfe zunehmen. Die Vorstellung, man könne sich erst nach Corona der Klimakrise widmen, geht also völlig an der brutalen Realität vorbei.
Faktisch stehen wir an einem Kipppunkt in der Krise: Geht es nachhaltig-fortschrittlich oder restaurativ-rückwärtsgewandt in die Zukunft? Das Dilemma der Ökologen: Corona schafft hochdramatische Gegenwartsprobleme und -bilder. Das Klima wird dagegen noch immer primär als Problem der Zukunft wahrgenommen. Ja, die Corona-Krise ist schon jetzt eine historische Weltwirtschaftskrise, aber sie ist eben noch weit mehr als das – nämlich eine Krise des gesamten Mensch-Natur-Verhältnisses. Exemplarisch zeigt sich dies in der Fleischindustrie. In den Corona-verseuchten Schlachthöfen sehen wir wie unter einem Brennglas die gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur, ebenso wie auch ihre verheerenden Folgen.
Schon lange vor Corona wussten wir, dass unsere Konsum- und Lebensweise weder ökologisch nachhaltig noch global gerecht ist. Deshalb ist es so verheerend, wenn wir jetzt unsere bloß vermeintliche „Normalität“ vor Corona noch einmal anstreben. Echte Krisenbewältigung kann nur unter neuen, ökologischen Vorzeichen gelingen. Nur dann wird die Corona-Krise nicht zu einem reinen Desaster, sondern vielleicht doch noch zu einer Chance.
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