Ende Weltende

Ausstellung Wie erlebten Berliner Türken die deutsch-deutsche Wendezeit? Ergun Çağatays Fotografien erzählen von Umbrüchen in Kreuzberg
Ausgabe 16/2018

Mauerweg. Eine Sechsergruppe ist auf geliehenen Fahrrädern unterwegs. Am Leuschnerdamm, in der Nähe des Oranienplatzes in Kreuzberg, machen sie Halt. Der eine zeigt den anderen Fotografien, auf denen zu sehen ist, wie es hier vor 30 Jahren aussah: Das Engelbecken, der Bereich zwischen Oranienplatz und St.-Michael-Kirche, wo heute die Menschen gemütlich flanieren, war zugeschüttet. Und am Leuschnerdamm, da stand die Mauer. Vollgemalt, vollgesprüht, mit Sprüchen wie „Save the Planet“ oder „Get human now!“.

Genau hierhin, an den Leuschnerdamm, hat es im April 1990 den türkischen Fotografen Ergun Çağatay gezogen. Çağatay, der für Agenturen wie Associated Press und Time Life aus New York gearbeitet hat und dessen Bilder nun bis zum 16. September im Märkischen Museum ausgestellt sind, hat damals Deutschland bereist, um eine Reportage über türkische Einwanderer zu machen. Wie leben sie, was machen sie, das waren die Fragestellungen. Am Leuschnerdamm fotografierte er Kinder, die an der Mauer spielen; ein paar von ihnen tragen Kopftuch. Und zwei türkische Frauen, ebenso mit Kopftuch, die ihren Einkauf in karierten Plastiktaschen nach Hause tragen. Die Mauer war bereits seit ein paar Monaten „gefallen“, hier aber stand sie immer noch – Zeit des Umbruchs, Wendezeit.

Üble Laune in der Kneipe

Der Leuschnerdamm ähnelt auf Çağatays Bildern einer unendlich langen und engen Gasse, deren Ende nicht zu erahnen ist, da sind keine Brüche oder Sprünge zu erkennen, die Mauer scheint für immer und unüberwindbar. Und die Frauen mit den Tragetaschen huschen irgendwie geduckt aus dem Bild heraus.

In seinem Buch Wir neuen Europäer (Verbrecher Verlag) setzt sich der seit 1969 in Deutschland lebende türkischstämmige Schriftsteller Aras Ören mit dem Leben in Kreuzberg auseinander. In seinem Gedicht Was ist los in der Naunynstraße? heißt es: „Ein Mann bleibt stehen und sieht dich an. / Sieht die Fremde in deinem Gesicht. Du siehst ihn an. / In euren beiden Gesichtern ist eine Fremde, / ein seltsamer Kummer, der wie ein säuerlicher Geschmack / euer ganzes Leben durchzieht. / Deine Fremde ist seine Fremde, /seine Fremde bist du. Denn er ist wegen des täglichen Brotes verdammt, / in die Straße, in die er geboren wurde, / und du bist wegen des täglichen Brotes verdammt, / in die Straße, in die er geboren wurde.“ Bleibt diese Fremde unüberwindbar?

Hier an der Mauer war mal das Ende der Welt. Zumindest das Ende West-Berlins, verwüstete Ostseite, vernachlässigte Mietshäuser auf der Westseite, plötzlich ist es die Mitte einer Weltstadt. Çağatay hält sich in dieser Zeit viel in Kreuzberg auf, hier haben die meisten Gastarbeiter gelebt, die Mieten waren damals im Gegensatz zu den wohlhabenden Vierteln wie Zehlendorf, Wilmersdorf, Steglitz, Schöneberg und Charlottenburg bezahlbar. Hier haben nicht nur, wenn auch in der Mehrheit, die türkischen Gastarbeiter gelebt, sondern auch die Italiener, die Jugos, die Griechen, die Portugiesen, die Spanier – und natürlich auch die deutschen Studenten und Linken, die Ökos, die Arbeiter, die Künstler und Punker. Aber die sind nicht Thema seiner Fotografien, Çağatay konzentriert sich auf die Menschen mit türkischer Abstammung. Er fotografiert sie bei der Arbeit, im Geschäft, beim Essen in der Pause, er fotografiert zwei fröhlich dreinschauende türkische Frauen ohne Kopftuch vor dem Fließband und eher übel gelaunte Männer beim Kartenspielen in der Kneipe. Er fotografiert den „Türkischen Basar“, der sich damals im stillgelegten U-Bahnhof Bülowstraße befand. Und auch die unter Deutschtürken berühmte Musikerin Ozan Şahturna und ihren Ehemann Ozan Şiar bei einem Konzert im Ostteil der Stadt.

Die Öffnung der Stadt brachte auch neue Möglichkeiten: Çağatay fängt einen Arbeiter neben einem Lieferwagen des türkischen Lebensmittelunternehmens Fruta vor dem Zweigwerk des VEB Messeelektronik in Friedrichshain ein, stolz blickt er in die Kamera. Ein neuer Auftrag? Auf einem Bild ist kein Mensch zu sehen, nur zwei geschändete Grabsteine auf dem Friedhof der Şehitlik-Moschee.

Die 35 Fotografien von Çağatay, der im Februar dieses Jahres gestorben ist, sind der Ausgangspunkt dieser Ausstellung, die eine Lücke in Berlins jüngerer Stadtgeschichte schließen will, denn, so heißt es in der Pressemitteilung, „bisher wurde die türkische Perspektive auf Mauerfall und staatliche Wiedervereinigung kaum berücksichtigt“. In der Tat ist diese Ausstellung nicht nur sehens-, sondern auch hörenswert: Das Kuratorenteam hat sich auf den Weg gemacht und einige der Protagonisten, die auf Çağatays Fotos abgebildet sind, nochmals für die Ausstellung ausfindig gemacht, sie interviewt, die Geschichte der Abgebildeten wird weitererzählt. Wie haben sie damals die Wendezeit gesehen? Wie sehen sie sie heute? In verschiedenen Interviews wird klar, viele haben sich gefreut, dass die Mauer endlich weg war. Es wurde aber auch bemerkt, dass sich durch die neuen Arbeiter aus Ostdeutschland und Osteuropa einiges in Betrieben geändert hat. Beispielsweise die Sitzordnungen in der Kantine, plötzlich, so berichtet „Bobisch“, ein Gastarbeiter, der bei Siemens arbeitete, saß er nicht mehr am Tisch mit den deutschen Kollegen – da saßen jetzt die aus dem Osten. Senay Celiks Eltern hatten damals einen Lebensmittelladen in der Bergmannstraße, Çağatay hat die ganze Familie vor dem Laden fotografiert. Senay Celik hat daraus später am gleichen Ort Café und Feinkostladen Knofi gemacht – und gegenüber ein weiteres Geschäft eröffnet.

Selbstbewusste 36 Boys

Die 36 Boys, eine Jugendbande, sie wurden als gefährlichste Gang Deutschlands bezeichnet, hat Çağatay am Kottbusser Tor abgelichtet, selbstbewusst schauen sie in die Kamera. Ihre Geschichte wird in der Ausstellung durch zwei Mitglieder erzählt. In Interviews erklären Muzaffer „Muci“ Tosun und Tuncay Karadeniz, was die Gang, die von 1987 bis Mitte der 90er Jahre existierte, im Rückblick für sie bedeutet hat. Beide sprechen von Zusammenhalt, von einem Gegenseitig-aufeinander-Aufpassen in einer Zeit, als rechtsextreme Gewalt gegenüber Ausländern zugenommen habe. Zwar war damals noch kein Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln oder Solingen passiert, kein NSU, aber „Ausländer klatschen“, das gab es auch schon vor der Wendezeit. Zunächst sei es der Gang darum gegangen, sich gegen Rechtsradikale zu wehren, später aber wurde „verschiedener Müll gebaut“, einige der Gang-Mitglieder mussten ins Gefängnis, Messerstecherei, schwere Körperverletzung und so weiter.

Irgendwann stieg man ins „bürgerliche Leben“ ein, die Gang löste sich auf. Karadeniz sagt, dass er es niemandem empfehlen würde, Gang-Mitglied zu werden. Es habe Zeiten gegeben, an die er sich gerne erinnere, aber auch jene, in denen andere unter der Macht der 36 Boys nicht nur körperlich gelitten hätten – das tue ihm im Nachhinein leid. Schließlich sei er aus Kreuzberg weggezogen, nach Schöneberg. Das alte Leben abschütteln, der Wunsch, ein neues Leben anzufangen, das kann in Berlin manchmal auch die Geschichte von Stadtteil-Migration sein.

Info

Bizim Berlin 89/90 Märkisches Museum Berlin, bis 16. September

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