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Tschechien Ein Blick auf 15 Jahre postsozialistisches Geschlechterverhältnis

Im Sozialismus ist das Leben schwer, im Kapitalismus hart", pflegte ich zu sagen, wenn man mich - und es war oft - nach dem Unterschied zwischen dem Leben im Sozialismus und Kapitalismus fragte. Auf diese einfache Formel lassen sich auch die Erfahrungen bringen, die Männer und Frauen in der Tschechischen Republik in den 15 Jahren nach der Wende auf ihrem Weg vom realen Sozialismus in den realen Kapitalismus gemacht haben.

Die erste Runde der Umstellung auf die neuen Verhältnisse haben die Männer gewonnen: In Windeseile haben sie ihre alten Jagdgründe in Wirtschaft und Handel erobert. Bis die Frauen begriffen hatten, dass nichts so schnell verloren geht, wie die Rechte der Frauen, glänzten sie schon in der ersten demokratisch gewählten Regierung durch Abwesenheit. Der Anteil der Frauen im Parlament sank im indirekten Verhältnis zu seiner zunehmenden Bedeutung von den 30 Prozent der Vorwendezeit auf fünf Prozent (inzwischen liegt er wieder bei etwa zehn). Und dies obwohl Frauen an der bürgerlichen Opposition und der Charta 77 aktiv und paritätisch beteiligt waren. Fast 30 Prozent der Charta-Sprecherinnen waren Frauen.

Die Männer, die unter dem den Alltag beherrschenden Matriarchat des sonst patriarchalischen sozialistischen Staates wohl gelitten haben mussten, haben sich mit der wachsenden wirtschaftlichen Macht ein neues Selbstbewusstsein zugelegt. Die roten Managersakkos und die bisher fast unbekannten Machoattitüden wurden zu den markantesten Ausdrücken ihrer "Befreiung". Im Gegenzug wurden die Frauen in der Gesellschaft deutlich marginalisiert. Dass mit dieser Veränderung der Geschlechterverhältnisse der Beweis erbracht wurde, dass die ungleiche Stellung der Frau dem kapitalistischen System immanent ist, und daher nur bedingt reformierbar, wollte und will bis heute niemand hören.

Freilich, wer erwartet hatte, die Frauen würden jetzt wieder zu ihrer traditionellen Hausfrauenrolle zurückkehren, musste enttäuscht sein. Sie haben ihre Position in der Berufswelt nicht aufgegeben, reagierten aber auf die neuen Möglichkeiten und härteren Bedingungen des Arbeitsmarktes wie auch auf die zahlreichen Schließungen der Kindereinrichtungen mit der Reduzierung der Kinderzahl: die Geburtenrate sank auf 1,15 im Jahr 2001. Zu den unangenehmen Überraschungen der Nachwendezeit gehörte für die Frauen auch die Prostitution, die neue Rolle der Frau als Sexobjekt in der Reklame und den Pornozeitschriften, und der spürbar veränderte Blick auf die Frau, der sich so schwer definieren lässt.

Eine unschöne Rolle in dem in Bewegung geratenen Geschlechterfeld sollte den westlichen Feministinnen zukommen. Sie kamen nach der Wende scharenweise und maßten sich ein Deutungsrecht über das Leben der Frauen an, von dem sie kaum etwas wussten. Seitdem, wenn auch mit nachlassender Tendenz, gilt das Wort Feminismus und Feministin für die Mehrheit der Tschechen als ein Schimpfwort. Freilich als eine Reaktion auf diesen Versuch der Fremdbestimmung der eigenen Geschichte, ist in Gender-Studies in Prag aufgrund der Initiative der Soziologin Jirina Siklová auch das oral-history Projekt "Gedächtnis der Frauen" entstanden, mit dem Untertitel "Auf der Suche nach der Identität der Frau im Sozialismus", das bald zu einem internationalen Projekt geworden ist, an dem unter anderem auch das Berliner Frauennetzwerk OWEN beteiligt ist. Die archivierten Biografien zeigen ein überraschend buntes, beeindruckendes und sehr differenziertes Bild des Frauenlebens in den ehemaligen sozialistischen Ländern.

Hielten die meisten tschechischen Politiker die Genderfragen für irrelevant, so wurden sie durch die EU-Beitrittsverhandlungen eines Besseren belehrt. So ist endlich auf Regierungsebene der Ausschuss für Chancengleichheit gegründet worden. Die seit dem Beginn der neunziger Jahre entstandenen zahlreichen NGOs, die sich mit dem breiten Umfeld der Frauenproblematik beschäftigten, bekamen dadurch ein neues Gewicht und wirken in dem Gremium beratend mit. Dies ist ein wichtiger Erfolg der tschechischen Zivilgesellschaft, deren Organisationen oft über mehr Kompetenz für einzelne aktuelle Probleme der Gesellschaft verfügen als der Regierungsapparat und das Parlament. Das gerade verabschiedete Gesetz gegen die häusliche Gewalt, wie auch die Zunahme der Zahl der Kommunalpolitikerinnen sind deutliche Zeichen dafür, dass sich die Situation in punkto Gender zu ändern beginnt. Vor allem aber haben tschechische Frauen inzwischen gelernt, um ihre Rechte zu kämpfen und sie öffentlich zu artikulieren.


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