Wie oft wurde in den vergangenen Jahren Kritik an der Bildungssituation in Deutschland geäußert? Die Politik reagierte mit Ignoranz. Die Bildungsstreiks, an denen seit 2008 Schüler, Eltern, Lehrer und Studierende (und kaum Professoren!) teilnahmen, wurden zunächst als unsinnige Reaktionen von Gestrigen abqualifiziert.
Im Herbst 2009 gab es jedoch ebenso erstaunliche wie beflissene Bekundungen des Verständnisses. Manche, die von maßgeblicher Stelle aus den kritisierten Umbau der Bildungseinrichtungen betrieben hatten, versuchten nun, sich an die Spitze der Proteste zu stellen. Kultusminister und Unileitungen versprachen Verbesserung. Bundesministerin Annette Schavan, aufgrund des Bildungsföderalismus institutionell in einer eher ohnmächtigen Position, lud für den 17. Mai zu einem Bologna-Gipfel nach Berlin ein. Weist dies darauf hin, dass es endlich zu einer sinnvollen Diskussion über Bildung und Wissenschaft, über eine diese fördernde Reform kommt?
Die Deutschen wähnen sich gebildet. Die Gymnasien und die Universitäten waren der Stolz des Landes und gaben dem Bürgertum lange das Gefühl des kulturellen Aufstiegs, der ihm politisch verstellt war. Diese Bildung hatte immer etwas Verblödendes: die Dünkelhaftigkeit, die Abwehr der Demokratie, die immer die Bildung für alle beinhaltet, die Feindseligkeit gegenüber anspruchsvollem Denken, die Vorbehalte gegenüber Wissenschaft. „Pisa“ bestätigte einmal mehr, dass es mit der Bildung nicht so weit her ist. Die Eliteschulen und -internate erweisen sich als homosoziale Räume der Disziplinierung, der Gewalt und des körperlich-sexuellen Übergriffs. Die Hochschulen sind verrottet – sagten Peter Glotz und andere, und sie hatten, mit falschen Argumenten, nicht unrecht.
Der letzte große Schub der Intellektualisierung und Qualitätssteigerung der Schulen und Unis war Resultat des Drucks, den kritisch-engagierte Schüler, Studierende und Lehrende in den sechziger und siebziger Jahren ausübten. Sie brachten die technokratische Reform jener Jahre zum Scheitern und öffneten den Bildungsbereich.
Diese demokratische Herausforderung hat das Bürgertum hysterisch reagieren lassen. Denn was es seit langem ablehnt ist eine theoretische Durchdringung und Kritik aller Verhältnisse. Die Hochschulen, für kurze Zeit Orte kritischen Wissens, wurden sich selbst überlassen, ihre Finanzierung zurückgefahren. Die Zahl der Stellen für Hochschullehrende stagniert seit den siebziger Jahren, seither hat sich jedoch die Zahl der Studierenden vervierfacht. Die Universitäten wurden, politisch gewollt, zum Verwahrungsort für junge Akademiker. Das Bildungsversprechen wurde ausgehöhlt: Zwar waren die Hochschulen für alle geöffnet, doch angesichts der schlichten Zahlenverhältnisse musste die Betreuung mies sein. Die Inhalte in Forschung und Lehre verödeten, die Bildungstitel verloren an Wert, die Berufsaussichten verschlechterten sich.
Alles in Heller und Pfennig
Das gab Gelegenheit, die technokratische Reform neu aufzulegen, nach dem Motto: Mit weniger mehr. Dem entspricht der neoliberale Umbau der Hochschulen. Es handelt sich um ein Programm des Misstrauens gegenüber denen, die an den Unis studieren und lehren: die Professoren faul und wenig innovativ, die Lehre schlecht, das Studium zu lang, die Studierenden zu wenig verantwortlich für sich, für ihr Studium, für die Gebäude. Obwohl dies bei kreativen Prozessen noch weniger funktionieren kann, soll alles in Heller und Pfennig berechnet werden können: die Studiendauer, die Effizienz und die Effektivität der Lehre, der Output der Forschung.
Damit der Verfassung formell entsprochen wird, bleibt zwar die Freiheit von Lehre und Forschung garantiert. Aber dort, wo die Politiker walten, wird alles der Diktatur von Wettbewerbsfähigkeit und Unileitungen unterstellt. Letztere bestimmen das Fachprofil der Hochschule, entscheiden über die Berufung von von neuen Professoren und verhandeln die Zielvereinbarungen mit den angehenden Hochschullehrern aus. Diese stehen unter dem Druck der ständigen Leistungskontrolle: Veröffentlichungen, Drittmitteleinwerbung, Evaluierung. Als Peitsche dient der Anreiz eines geringfügig höheren Gehalts, die Drohung mit Gehaltseinbußen oder die Abschaffung des Studiengangs.
Motivation und Kreativität untergraben
Denn diese werden nicht aus wissenschaftlichen, sondern wettbewerblichen Gründen geschaffen. Das erlaubt der Hochschulleitung eine flexible Form der Profilbildung: Erst wird gefordert, dass Hochschullehrer Studiengänge entwickeln, intern werden diese zunächst darauf hin geprüft, ob sie für das Profil der Hochschule interessant sind, dann werden sie für einige Jahre akkreditiert, die Lehre beginnt, es kommt schließlich zur Evaluation. Im Prinzip ist es möglich, Studiengänge nach wenigen Jahren wieder einzustellen und nach Marktlage die Hochschullehrer mit der Schaffung von neuen zu beauftragen.
Wie leicht zu erahnen ist, kostet all das viel Geld, das vor allem der Verwaltung zukommt. Und viel Zeit, die den Wissenschaftlern genommen wird. Viele konnten glauben, dass sie durch die Reorganisation gewinnen würden. Insbesondere die Exzellenzförderung verspricht das. Für einige wenige stimmt es ja auch, denen der Status der Exzellenz zugesprochen wird: zunächst von der Unileitung, die unterscheidet zwischen solchen, die sich um Exzellenz bewerben dürfen und solchen, die es nicht dürfen. Die erfolgreichen Hochschullehrer werden nicht nur besser bezahlt, sie erhalten nicht nur mehr Freisemester, sie können ihre Studierenden auswählen und sich von Lehrverpflichtungen und Verwaltung weitgehend befreien. Für die anderen bedeutet dies ein Mehr an Studierenden, Betreuung, Prüfung, Verwaltung und schlechtere Bezahlung. Für diejenigen, die eine Lehrprofessur erhalten, auch mehr Lehrverpflichtung in der Grundausbildung. So entsteht ein Klima, das die Motivation, die Kreativität und den Austausch untergräbt.
Das Studium als Betrug
Für die Studierenden hat all dies ebenfalls weitreichende Konsequenzen. Es werden Studiengänge geschaffen, von denen weder sicher ist, ob Wirtschaft oder Verwaltung sie benötigen, noch ob sie irgendeinen wissenschaftlichen Wert haben. Die Studiengänge mit Bachelor-Abschluss sind häufig auf sechs Semester begrenzt, der Zugang zum weiter führenden Master-Abschluss ist eingeschränkt. Da das Studium curricular streng organisiert ist, können Studierende kaum noch frei ihre Lehrveranstaltungen wählen. Ein wirklich akademisches Studium, in dem sich fachliche Interessen herausbilden und ein besonderes Lern- und Forschungsverhältnis mit einem Hochschullehrer entsteht, wird verunmöglicht. Die Studierenden stehen unter dem Druck, vom ersten Tag an ständig auf ihre Zensuren zu schauen, weil diese in die Endnote eingehen. Auch dies ist dem freien wissenschaftlichen Studium abträglich und vergiftet das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden, damit aber auch den Forschungsprozess, für den Studierende unerlässlich sind.
Die Studierenden spüren richtig, dass die Wissenschaften bedroht sind und dass das Studium zum Betrug wird. Interessierte kräfte versuchen, ihre Proteste zu instrumentalisieren. Schavan möchte ihre geschwächte Position stärken, die Hochschulpräsidenten und -rektoren wollen mehr Geld von der Politik. Damit ist nicht die Absicht auf eine Veränderung der bisherigen Linie des Umbaus der Hochschulen verbunden, die auf eine Spaltung der Universitäten in solche für die Elite und solche für die Masse zielt, auf eine Absenkung des Ausbildungsniveaus, auf eine Verringerung der Kosten und deren Abwälzung auf die Studierenden, auf die Inwertsetzung des Wissens und hochschulischer Studiengänge. Die Studierenden reagieren darauf, indem sie die soziale Öffnung des Studiums fordern, eine längere Regelstudienzeit, die Abschaffung von Studiengebühren, eine bedarfsdeckende Finanzierung aller Studierenden, eine bessere Ausstattung der Hochschulen, eine Aufstockung des Lehrpersonals.
Neoliberale Monokulturen
Den Studierenden ist wohl bewusst, dass es nicht allein um Finanzierungsfragen geht. Sondern vor allem um eine Veränderung der Studienstruktur und der -inhalte, also um eine Verbesserung der wissenschaftlichen Situation. Ihr Protest stellt deswegen eine Bildungsbewegung dar. Sie halten eine Revision des Bachelor-Master-Systems für notwendig, eine Abkehr vom Kurzzeitstudium, das ihnen nur so genannte Schlüsselkompetenzen vermittelt. Sie fordern mehr Zeit und Möglichkeiten, ihr Studium selbst zu bestimmen: Phasen der Lernfreiheit, der eigenständigen Schwerpunktsetzung und Wissensaneignung. Es geht ihnen um fundierte Inhalte und gesellschaftliche Reflexion. Sie beklagen die wissenschaftlichen Monokulturen als Ergebnis einer neoliberalen Politik, die dem wissenschaftlichen Mainstream alle Möglichkeiten gegeben hat, kritische Ansätze und ihre Vertreter aus den Unis hinauszudrängen. Schließlich bündelt sich all dies wieder einmal in der Forderung nach mehr Mitsprache, nach einer Demokratisierung der Hochschulgremien und des wissenschaftlichen Prozesses insgesamt.
Dem entspricht die offizielle bildungspolitische Diskussion bislang nicht. Wenn die nominell Verantwortlichen so wenig Verantwortung für die Zukunft der Wissenschaften zeigen, ist es gut, dass es die Studierenden tun. Es geht um freie und autonome Bildung und Wissenschaft, darum, welche Möglichkeiten kommende Generationen haben zu lernen, zu wissen und zu forschen. Es ist zu wünschen, daß die Proteste weitergehen – die Vorbereitungen dafür finden statt.
Alex Demirović gehört zu den prominentesten Exponenten der Kritischen Theorie in Deutschland und ist Professor am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse an der Universität Frankfurt (Main)
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