Bevor der Showmaster die Bühne betritt, ist der Warm-Upper dran. Er soll das Publikum auf Touren bringen, damit es bei der anschließenden Fernsehproduktion richtig mitzieht. Die nicht gerade einfache Rolle des Anheizers übernimmt an diesem Abend Fabio De Masi, Bundestagsabgeordneter der Linken und Vertrauter Sahra Wagenknechts – sie ist hier heute der Stargast. Dieser Abend im Kulturzentrum Fabrik im Hamburger Stadtteil Ottensen ist ihr erster öffentlicher Auftritt, nachdem sie ihren Rückzug von der Aufstehen-Spitze und dem Vorsitz der Bundestagsfraktion verkündet hat.
Fabio De Masi heizt ein, als hätte er nie im Leben etwas anderes gemacht. Er habe Sahra Wagenknecht gerade im Auto erzählt, dass es in Hamburg nicht immer regne. Ein Lacher, der in Hamburg immer funktioniert. Seine rechte Hand umschließt das Mikro, mit der linken gestikuliert er ausschweifend, vor allem dann, wenn er über Hartz IV, Kitas und Menschen spricht, die Flaschen sammeln müssen, um über die Runden zu kommen. Er blickt in die Gesichter der Leute, die gekommen sind, um vor allem eine zu sehen: Sahra Wagenknecht. Was hat es mit ihrem Rückzug aus der Spitze der Fraktion auf sich? Wie geht es weiter mit der Sammlungsbewegung Aufstehen? Zieht sie sich womöglich ganz aus der Politik zurück? Als De Masi fertig ist und sie die Bühne betritt, stehen die meisten auf: Wagenknecht lächelt und wirkt fast ein wenig erleichtert.
Todesresigniert von der Politik
In der dritten Reihe steht Ingo von Hoesslin. Er ist einer der ersten, der sich erhebt, um Sahra Wagenknecht zu applaudieren. Der Jobcenter-Sachbearbeiter ist von Beginn an in der Hamburger Aufstehen-Gruppe aktiv. Er habe eigentlich immer SPD gewählt, sagt er, so wie alle damals dort, wo er ursprünglich herkommt: Ostfriesland. Doch dann konnte er das irgendwann nicht mehr tun, sagt er – er muss lange überlegen, wann er das letzte Mal sein Kreuz bei der SPD gemacht hat. Schröder, aber nur einmal – 1998. Seitdem sei er zwar eigentlich immer zu Wahlen gegangen, habe aber irgendwelche Promilleparteien gewählt. „Ich war verschüttet, todesresigniert von der Politik“, sagt er. Es gibt vor allem zwei Gründe, warum der 45-Jährige sich jetzt wieder engagiert. Ihm macht der Aufstieg der Rechten Angst, man dürfe denen nicht das Feld überlassen. Er habe einen zweieinhalbjährigen Sohn und will nicht, dass dieser in einer Gesellschaft aufwächst, die immer weiter nach rechts driftet. Und dann flatterte irgendwann ein Brief ins Haus, in dem stand, wie viel Rente er zu erwarten hat. Obwohl er im öffentlichen Dienst arbeitet, obwohl es ihm eigentlich gut geht, würde er damit kaum über die Runden kommen. Vor zwei Monaten ist er in die SPD eingetreten – und will sich da jetzt auch einbringen. Die Gründe, die er anführt, zeigen, dass die Polarisierung in kulturelle und soziale Fragen wenig Sinn ergibt: Es ist sowohl der Rechtsruck in der Gesellschaft als auch die Wut auf eine Politik der sozialen Kälte.
Stunden vorher hatte sich Ingo von Hoesslin mit anderen Aufstehen-Aktiven ausgetauscht. Stühle aufgestellt, den Aufstehen-Stand aufgebaut. Kurz bevor die Türen geöffnet wurden, stand er um einen runden Stehtisch mit vier anderen Aktiven zusammen. Dass Wagenknecht ihren Rückzug von der Aufstehen-Spitze verkündet hat, hat niemanden von ihnen aus der Ruhe gebracht. In seiner Nachbarschaft beschäftigten sich die Menschen vor allem mit steigenden Mieten, sagt Rolf Beitz, 49, Ingenieur aus Eimsbüttel. Er trägt an diesem Abend eine gelbe Weste und eine schwarze Schiebermütze. Wer an der Spitze stehe, sei zweitrangig, sagt er, es gehe um die Basis – nicht um Köpfe.
Rotwein trinkt hier niemand
Auf die Frage, in welche Richtung sich die Linkspartei ohne Wagenknecht in der ersten Reihe entwickeln würde, zucken alle am Tisch mit den Schultern. Darüber habe er sich noch gar keine Gedanken gemacht, sagt einer. Niemand der Fünf ist Mitglied der Linkspartei. Wagenknecht wird hier schon geschätzt, aber nicht wegen ihrer Parteizugehörigkeit. Von dem Abend erhoffen sie sich vor allem: ein volles Haus – und dass Sahra Wagenknecht noch ein paar Menschen ermuntern kann, sich Aufstehen anzuschließen.
Binnen kurzer Zeit füllt sich der Saal. Viele zieht es erst einmal zum Tresen. Die Wahl der meisten: ein Becher Bier. Rotwein trinkt hier niemand.
Kurz bevor es losgeht ist zwar klar, dass der Raum gut gefüllt ist, aber auch nicht randvoll. Vorsichtshalber hatten die Organisatoren in einer Sportsbar nebenan einen Livestream eingerichtet, damit diejenigen, die nicht mehr reinpassen, wenigstens das gemeinsame Public-Viewing-Erlebnis haben. Am Ende werden es 800 bis 900 Leute sein – eine gut besuchte Veranstaltung, aber das Public-Viewing in der Sportsbar wird nicht nötig sein. Das Publikum ist sehr gemischt, gemischter als bei so manch anderen Aufstehen-Veranstaltungen, bei denen vor allem graue und weiße Haare zu sehen sind. Hier sind auch viele Jüngere dabei. In einer Ecke spielt ein Musiker auf seiner Akustikgitarre eine Mischung aus Blues und Meditationsmusik.
Enteignung, klar
Dann geht es los: De Masis Warm-up, die Standing Ovations für Wagenknecht und das Podiumsgespräch. Wagenknecht braucht gerade einmal 30 Sekunden, um sich warm zu reden. Sie kritisiert die Selbstgerechtigkeit derer, die sich angesichts der schwierigen politischen Situation wünschen, dass Aufstehen scheitert. Dann sagt sie das, was sie eigentlich immer sagt, wenn es um Aufstehen geht: Es gehe nicht um Spaltung, sondern darum, „gemeinsam auf die Straße gehen, sich gemeinsam Gedanken machen, gemeinsam Konzepte zu entwickeln“, denn es könne nicht so bleiben, wie es ist.
Wagenknecht ist in ihrem Element. Sie verhaspelt sich nie, spricht sachlich und pointiert über den nicht funktionierenden Mietmarkt, die Angst vieler Menschen, wegen der hohen Mieten ihr Zuhause zu verlieren. Es brauche eine radikale Mietpreisbremse für zehn Jahre, den Rückkauf von Wohnungen. Außerdem müssten Miethaie wie Deutsche Wohnen natürlich enteignet werden. Häufig wird sie von Applaus unterbrochen. In diesen Momenten lächelt sie.
Manchmal grätscht ihr Sitznachbar dazwischen: Mathias Petersen, Arzt, Abgeordneter in der Hamburgischen Bürgerschaft und bekanntes SPD-Mitglied des linken Flügels. Er macht zwar nicht offiziell bei Aufstehen mit, betont an diesem Abend aber auffällig oft das Wort, das auch Wagenknecht wichtig ist: gemeinsam. Man müsse bei Sachfragen überlegen, wie man sie gemeinsam lösen könne, müsse gemeinsam überlegen, was gerecht ist, müsse gemeinsam schauen, wie man etwa den Spitzensteuersatz wieder erhöhen könnte. „Schröder hat den gesenkt“, ruft jemand aus dem Publikum. Petersen kontert direkt: „Das stimmt zwar, aber das hilft jetzt auch nicht weiter.“ Man müsse in die Zukunft blicken, aufeinander zugehen, einen gemeinsamen Weg beschreiten.
Die Linke, "meine Partei"
Petersen bekommt für seine kritischen Nachfragen öfters etwas aus dem Publikum zu hören, wenn er gegen Privatisierungen spricht auch mal zaghaften Applaus. Der Lokalmatador Fabio De Masi hält sich an diesem Abend zurück und überlässt Wagenknecht die großen Punkte. Sie präsentiert sich an diesem Abend, so wie man sie kennt: Sie ist zwar keine für das Bad in der Menge, aber sie hat eine Fähigkeit, die vielen Berufspolitiker*innen fehlt: Sie wirkt glaubwürdig. Die Menschen in der Fabrik nehmen es ihr ab, dass sie sich darum sorgt, dass die Gesellschaft auseinander fällt, dass die Armen immer ärmer werden. Viele ihrer Sätze sind klassisch sozialdemokratisch, etwa wenn sie sagt, früher habe es noch mehr soziale Mischung in den Bezirken gegeben, heute würden sich Wohlhabendere und Ärmere kaum noch begegnen. Und so nimmt man es ihr auch an diesem Abend ab, wenn sie für eine mehrheitsfähige Mitte-links-Politik wirbt.
Ein Thema spart sie aus: Geflüchtete und Migrant*innen. Interessant ist auch, was sie über die Linkspartei sagt. Sie nennt ihre Partei häufiger am Abend, häufiger als sonst in öffentlichen Diskussionen. Sie benutzt dann Formulierungen wie „meine Partei“: „Wir müssen auch unsere Partei verändern, dürfen nicht so arrogant rüberkommen“, sagt sie. Sie wünsche sich eine linke SPD, die mit einer noch linkeren Linken koaliert, dafür müsse sich aber vor allem die SPD verändern, glaubwürdig verändern, wie sie betont. Bei den Linken sieht sie bekanntlich auch Veränderungsbedarf, aber lässt sie an diesem Abend unerwähnt.
Das Publikum kommt dann die letzten 20 Minuten zu Wort – etwas spät für eine Basisbewegung, wie ein Mann einwirft. Eine junge Frau mit Adidas-Hoodie fragt, was sie von den Schüler-Klimademonstrationen Fridays for Future halte. Wagenknecht freut sich, dass sich junge Menschen engagieren. Wer könnte da widersprechen? Ein Krankenpfleger berichtet davon, dass viele seiner Kolleg*innen den Job wechselten, weil sie es nicht mehr aushielten. Eine Hebamme, selbst SPD-Mitglied, pflichtet ihm bei und kritisiert Privatisierungen im Gesundheitsbereich. Ein Vierter erzählt, dass er sein Geld mit Putzen verdient und einer dieser ominösen Nichtwähler und Frustrierten sei, der kein Vertrauen mehr in die Politik habe.
Aufstehen ist noch nicht am Ende
Und dann am Ende kommt Wagenknecht nochmal auf Aufstehen zu sprechen. Die Gelbwesten hätten doch gezeigt, dass sich Menschen, die von der Politik vergessen und ignoriert wurden, Gehör verschaffen können. Aufstehen habe Potenzial noch zu wachsen, sagt sie, und zeigt, dass sie weiter an ihre Idee glaubt, auch wenn Politik und Medien Aufstehen längst abgeschrieben haben. Es ist schwer vorstellbar, dass Wagenknecht dieser Bewegung den Rücken kehrt, so leidenschaftlich wie sie davon spricht, dass es ganz normale Leute mit ganz normalen Leben sind, die sich jetzt nicht mehr über den Tisch ziehen lassen.
Sahra Wagenknecht spricht an diesem Abend wohl kaum einen Satz aus, den sie so nicht schon einmal bei Veranstaltungen, in Talkshows oder im Bundestag gesagt hat. Ihr Auftritt – als wäre nichts gewesen, sagt Eva Flemming-Schmidt. Die 41-Jährige aus dem Arbeiterstadtteil Barmbek trägt kurze graue Haare, eine runde Brille. Sie streicht sich über ihren tätowierten linken Arm. Der Rückzug Wagenknechts von der Aufstehen-Spitze bringt sie nicht aus der Ruhe. Die Veranstaltung sei unterm Strich erfolgreich gewesen. Sie hat den Aufstehen-Infostand betreut und sich mit vielen Menschen unterhalten. Einige kamen einfach nur, um ihren Kummer loszuwerden, wollten sich mitteilen. Manche wollen jetzt mitmachen. Aufstehen sei ein bunter Haufen, sagt sie. Wagenknecht habe das Projekt initiiert und auch sie motiviert, endlich was zu machen. Aber: Wagenknecht sei nicht der Grund für ihr Engagement. Bei ihr habe sich in den vergangenen Jahren viel Ärger und Wut aufgestaut, vor allem, weil sie das Gefühl habe, es ändere sich ja nichts, egal wen sie wähle. Die Mieten bleiben hoch, in den Kliniken werde immer mehr gespart, das Klima gehe vor die Hunde und über allem stehe das Profitinteresse. Bei Aufstehen habe sie zum ersten Mal die Möglichkeit gesehen, etwas zu tun. Diejenigen, die Aufstehen gerade runterschreiben, hätten keine Ahnung. „Wir machen uns gerade erst warm.“
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