Das blutigste Jahr

Mexiko Präsident López Obrador bleibt den versprochenen inneren Frieden vorerst schuldig
Ausgabe 06/2020
Ein Reporter hebt zur Zwischenfrage während einer Pressekonferenz mit Mexikos Präsidenten López Obrador an
Ein Reporter hebt zur Zwischenfrage während einer Pressekonferenz mit Mexikos Präsidenten López Obrador an

Foto: Pedro Pardo/AFP/Getty Images

Mitte März 2019 hat Manuel López Obrador die neoliberale Epoche in Mexiko offiziell für beendet erklärt. „Für uns ist der Albtraum vorbei,“ so der Präsident, als er seinen Entwicklungsplan für die gerade begonnene Amtszeit vorstellte. Man müsse jetzt eine neue post-neoliberale Politik entwerfen und ein tragfähiges Modell finden, mit dem sich die politische Ordnung verändern ließe. Dass López Obrador im Juli 2018 die Präsidentenwahl mit der historischen Mehrheit von mehr als 53 Prozent der Stimmen gewonnen hatte, zusammen mit seiner erst 2014 gegründeten Partei MORENA (Bewegung der Nationalen Erneuerung), hatte viel mit korrupten Vorgängern zu tun, die ein von Gewalt und Korruption zerfressenes Land hinterließen.

Über 61.000 Menschen galten als verschwunden, wie viele Opfer der 2006 vom damaligen Präsidenten Calderón ausgerufene „Krieg gegen die Drogen“ bis dahin gefordert hatte, blieb unklar – Schätzungen gingen von 250.000 Toten aus. In dieser Lage konnte sich López Obrador als Anti-Establishment-Kandidat ins Zeug legen und mit dem Versprechen einer „Vierten Transformation“ überzeugen. Sie sollte das Land ähnlich gründlich umwälzen, wie das einst mit der Unabhängigkeit von 1821, den Reformen im 19. und der Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschah. Mehr als ein Jahr nach der Amtsübernahme von López Obrador ist davon wenig zu spüren.

Mit mehr als 31.000 Toten wurde 2019 zum blutigsten Jahr seit Beginn des Drogenkriegs. Der Staatschef vermochte die Konfrontation nicht einzudämmen, stattdessen wurde mit der Guardia Nacional eine militarisierte Polizeieinheit mit gut 60.000 Mann geschaffen, ein Schritt hin zur mehr innerer Militarisierung. Auch ökonomisch bleiben greifbare Erfolge aus. Trotz diverser Sozialprogramme und eines auf umgerechnet 5,90 Euro erhöhten Mindestlohns lebt eine Mehrheit der Mexikaner unverändert in prekären Verhältnissen. Der angekündigte Kampf gegen Korruption und die Verschwendung von Steuergeldern kennt bisher nur einen prominenten Fall. Zur Rechenschaft gezogen wurde Eduardo Medina Mora, Richter am Obersten Gericht, der sich zur Demission gezwungen sah, nachdem die Staatsanwaltschaft, die illegale Finanzströme untersucht hat, ihm fünf Millionen Dollar auf europäischen Konten nachweisen konnte.

Noch sind die Zustimmungswerte für López Obrador hoch. Laut einer Umfrage der Zeitung El Financiero sympathisieren derzeit 72 Prozent mit seiner Politik. „Doch irgendwann werden die Leute Ergebnisse sehen wollen, spätestens Ende dieses Jahres“, glaubt Zósimo Camacho, Reporter des Investigativmagazins Contralínea. „Und dann werden sie die Regierung an ihren Versprechen messen. Aus meiner Sicht ist die ‚Vierte Transformation‘ die Fortführung bisheriger Staatspolitik mit veränderter Rhetorik.“

Drei Megaprojekte

Nirgends wird dies so deutlich wie in der von López Obrador forcierten Infrastrukturpolitik. Um die Wirtschaft zu beleben, werden Megaprojekte favorisiert, von denen drei besonders ins Auge fallen: der Tren Maya, ein mehr als 1.500 Kilometer langer Schienenweg, der die südöstlichen Bundesstaaten Chiapas, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo für den Massentourismus öffnen soll. Dazu der Corredor Transístmico, eine Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik an der Meerenge des Isthmus von Tehuantepec, verbunden mit dem Ausbau von Zugtrassen, Logistikzentren und Häfen, um sich für den internationalen Handel zu empfehlen. Schließlich das Proyecto Integral Morelos, das verschiedenen Wärme- und Erdgasanlagen gilt, um Zentralmexiko mit Energie zu versorgen.

Schon in den 1990er Jahren gab es Pläne, den verarmten Süden zu erschließen und stärker in die nationale Wertschöpfung einzubinden. Doch stießen derartige Ambitionen bei der lokalen, vorwiegend indigenen Bevölkerung auf Widerstand, die eine Zerstörung der Umwelt und ihrer soziokulturellen Identität befürchtete. Insofern ist es nicht groß verwunderlich, wenn jetzt die zapatistische Bewegung, die seit ihrem Aufstand vom Januar 1994 Teile des Staates Chiapas selbst verwaltet, das kollektive Unbehagen gegenüber den Megaprojekten der Regierung deutlich artikuliert.

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