Der Körper als letzte Waffe

Kurden Der Hungerstreik gegen die Isolationshaft Abdullah Öcalans hat Erfolg, in Deutschland aber kaum öffentliche Resonanz
Ausgabe 19/2019

Cemal Kobanê und Ömer Bağdur liegen in schmalen Betten, beide tragen einen weißen Mundschutz, es riecht nach Desinfektionsmittel. An den Wänden hängt ein Antifa-Banner und eine Fahne mit dem Abbild Abdullah Öcalans, des Gründers und Vorsitzenden der kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Für die Aufhebung seiner Isolation hungern die beiden Männer hier seit 100 Tagen. Und seit mehreren Wochen teilen sie sich ein kleines Zimmer in einem unscheinbaren Gebäude im Bezirk Reinickendorf im Norden Berlins. Hier hat NAV-DEM, das demokratische Gesellschaftszentrum der Kurdinnen in Deutschland, seinen Sitz. Auf dem Nachttisch der beiden Männer stehen Fotos ihrer Familien. Beide sind verheiratet und haben Kinder, die ihre Väter an den Wochenenden in Berlin besuchen – so oft es geht. Denn eigentlich kommen Bağdur und Kobanê aus Kassel. Dort sind sie am 29. Januar in den Hungerstreik getreten.

„Am 7. November trat die kurdische HDP-Abgeordnete Leyla Güven im türkischen Gefängnis in Diyarbakir in einen unbefristeten Hungerstreik,“ beginnt Ömer Bağdur mit schwacher Stimme zu erzählen. „Ihre Forderung ist ganz simpel: der türkische Staat soll die Isolationshaft unseres Vorsitzenden beenden und so den Weg für neue Friedensverhandlungen ebnen.“ Der 55-Jährige atmet schwer. „Das ist doch nichts Unmögliches. Oder ist es etwa maßlos, von der Türkei zu fordern, dass sie sich an die eigenen Gesetze hält und auch Abdullah Öcalan die Rechte zugesteht, die laut der türkischen Verfassung jedem Gefangenen zukommen?“

Als Bağdur diese Worte spricht, weiß er noch nicht, dass sich Öcalan nur wenige Tage später an die Öffentlichkeit wenden wird. Dass er am 2. Mai zum ersten Mal seit acht Jahren, seit dem 27. Juli 2011, Besuch von zwei seiner Anwälte erhalten konnte. Dass der Hungerstreik, der von Leyla Güven im November begonnen wurde und dem sich seither nicht nur mehr als 7.000 kurdische Gefangene in der Türkei, sondern auch viele Kurden in Straßburg, Stockholm, Rom, Toronto und eben Berlin angeschlossen haben, also einen ersten Erfolg feiern kann.

Die ersten Toten

Am Montag veröffentlichen Öcalans Anwälte eine Erklärung des PKK-Vorsitzendem, der seit 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer inhaftiert ist. Eine gesellschaftliche Versöhnung sei wichtiger denn je, sagt Öcalan; dafür sei nicht psysische Gewalt, sondern „Soft power”, politische und kulturelle Stärke, nötig. Auch in Syrien. Zusammen mit den anderen drei kurdischen Gefangenen auf der Gefängnisinsel äußerte sich Öcalan zum Hungerstreik: „Bei allem Respekt für den Widerstand der Freundinnen und Freunde innerhalb und außerhalb der Gefängnisse möchten wir betonen, dass sie ihre Aktion nicht an den Punkt bringen sollen, an dem ihr Leben in Gefahr gerät oder gar zum Tod führt.“ Ihre rechtliche, körperliche und geistige Gesundheit sei wichtiger als alles andere. „Wir glauben außerdem, dass der sinnvollste Ansatz mit der Entwicklung einer mentalen und spirituellen Haltung zusammenhängt. Niemand soll in den Gefängnissen und außerhalb so weit gehen, dass er oder sie durch den Hungerstreik stirbt.“ Zuvor hatten 15 kurdische Gefangene mit dem Todesfasten begonnen, sie nehmen nur noch Wasser, Zucker und Salz, aber keine Vitamine mehr zu sich.

Dass die Anwälte Öcalan nach 810 erfolglosen Kontaktanträgen sehen durften: das feiern die Kurden als Erfolg der Hungerstreikenden. Doch wurde ein Besuchsantrag seiner Familie am 6. Mai zugleich abgelehnt. Auch andere Forderungen – eine Zugang Öcalans zur Tagespresse sowie Telefonate mit Angehörigen etwa – wurden nicht gewährt. Nur wenige Stunden nach der Erklärung Öcalans meldete sich ein Sprecher der Hungerstreikenden in den türkischen Gefängnissen zu Wort und erklärte, Hungerstreik und Todesfasten gegen die Isolation Öcalans würden auch nach dem Anwaltsbesuchs fortgesetzt.

Ömer Bağdur in Berlin ist nach mehr als drei Monaten ausgemergelt. Warum hat sich der Kurde, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, dem Streik angeschlossen? „Ich komme aus Cizre“, sagt er. Das Sprechen fällt ihm sichtlich schwer. „Gerade dort hat das türkische Regime in den letzten Jahren gezeigt, zu was es fähig ist.“ Nach dem Scheitern der letzten Friedensverhandlungen zwischen PKK und türkischer Regierung wurde die vorwiegend von Kurden bewohnte Stadt im Südosten der Türkei 2015 und 2016 Schauplatz von Kriegsverbrechen der türkischen Armee. Im Gedächtnis blieben die verzweifelten Anrufe von Zivilistinnen, die sich in Keller geflüchtet hatten und dort später aufgrund des massiven Artilleriebeschusses der türkischen Armee auf die kurdischen Wohnviertel verbrannten. „Wir wollen keinen Krieg mehr. Doch Frieden kann es nur mit Öcalan geben.“ Jetzt gibt Bağdurs Übersetzer ein Zeichen. Er brauche nun Ruhe.

Ein Zimmer weiter liegen Mele Mustafa Tuzak und Şiyar Xelil, auch sie haben sich vor mehr als 100 Tagen dem Hungerstreik angeschlossen. Beide sind zu schwach für ein Gespräch. Immer wieder wurden sie in den letzten Wochen notärztlich versorgt, jede darüber hinausgehende Behandlung lehnen sie ab.

Im Erdgeschoss läuft derweil der normale Betrieb des kurdischen Kulturvereins weiter. Menschen trinken Tee, es läuft kurdisches Fernsehen, an den Wänden hängen die Bilder von gefallenen Kämpferinnen. Im Innenhof sitzt Ali S. Der gelernte Bürokaufmann lebt seit 47 Jahren in Berlin und ist seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg politisch aktiv. Bei NAV-DEM kümmert sich der 63-Jährige um den Kontakt zu Medienvertretern, die über den Hungerstreik berichten. Er erzählt, wie angespannt die kurdische Bewegung angesichts der ersten Toten des Hungerstreiks ist. Und er erzählt, wie die Mütter der hungerstreikenden Gefangenen in den letzten Wochen immer wieder von der türkischen Polizei angegriffen wurden, als sie auf die Situation ihrer Kinder aufmerksam machen wollten. In Istanbul wurde der Koşuyolu-Park noch am Montag wieder abgesperrt, um solch eine Kundgebung zu verhindern.

Auch wenn die türkische Regierung mit dem Besuch der Anwälte ein erstes Zugeständnis gemacht hat, bleibt die erhoffte Öffentlichkeit für den größten koordinierten Hungerstreik der kurdischen Bewegung noch immer aus. Solidarität kommt lediglich aus den Teilen der europäischen Linken, die sich insbesondere seit der Revolution im nordsyrischen Rojava intensiver mit der kurdischen Bewegung auseinandergesetzt haben.

Nick Brauns und Sveva Haertter sind schon länger dabei. Seit den 1990er Jahren engagieren sie sich für die Rechte der Kurdinnen, jetzt sind sie im Zentrum vorbeigekommen, um den vier Hungerstreikenden in Berlin Solidaritätsgrüße zu überbringen. Brauns ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linke-Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke. Er kennt die Geschichte des Hungerstreiks in der kurdischen Bewegung gut. „Auch vor den letzten Friedensgesprächen zwischen der PKK und Erdoğan Ende 2012 gab es einen großen Hungerstreik in den türkischen Gefängnissen“, erinnert er sich, „aber die Frage ist, ob die Botschaft auch diesmal ankommt.“

Das Öcalan-Tabu

Die mangelnde Aufmerksamkeit habe mit einer Art „Öcalan-Tabu“ in den europäischen Medien zu tun. „Weil die PKK in Deutschland und Europa als terroristische Organisation betrachtet wird, kommen viele Politikerinnen und Journalisten gar nicht auf die Idee, dass es einen Frieden in der Region nur mit der PKK und ihrem ideologischen Vordenker Öcalan geben kann.“ Gäbe es einen ähnliche Aktion für die Freilassung des seit 2016 inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, sähe das anders aus, mutmaßt Brauns. „Dabei beruft sich Demirtaş immer wieder auf die Ideen Öcalans und unterstützt dessen Vorschläge für einen gerechten Frieden.“

Viele Linke in Deutschland würden mit dem Mittel des Hungerstreiks fremdeln. Hinzu käme, dass zwar viele mit dem Kampf der kurdischen Milizen gegen den IS in Syrien und Rojava sympathisieren, der PKK aber kritischer gegenüberstehen. Die strenge Kaderdisziplin und der Kult um Öcalan sowie die harsche Verfolgung der Partei in Deutschland seit ihrem Verbot 1993 sorgen bei vielen „für eine Schere im Kopf, die zwischen guten und schlechten Kurden unterscheidet“, so Brauns. „Selbstaufopferung und bedingungslose Hingabe an eine Sache werden heute wohl eher mit islamistischen Gruppen konnotiert.“

Bei diesem Punkt kann Sveva Haertter nicht mehr an sich halten. „Ich kann diese Kritik am Hungerstreik nicht mehr hören,“ sagt die Aktivistin aus Rom. „Da wird so getan, als hätte die kurdische Bewegung nicht bereits alles Erdenkliche versucht. Sie haben eine Guerillaarmee in den Bergen, ein großes Mediennetzwerk, Parteien in allen wichtigen regionalen und sogar im nationalen Parlament der Türkei. Daneben Menschenrechtsvereine und NGO zu allen möglichen Themen.“ Haertter, die seit vielen Jahren im italienischen Solidaritätsnetzwerk für Kurdistan aktiv ist, schüttelt den Kopf. „Dieser Hungerstreik ist das letzte Mittel, das der Bewegung angesichts der verheerenden Lage in der Türkei bleibt.“ Die europäische Linke sollte die legitimen Forderungen der Kurden unterstützen.“

Als die beiden Unterstützer gegangen sind, setzen sich Ömer Bağdur und Cemal Kobanê vor ihrem Zimmer auf eine kleinen Terrasse. Die Sonne scheint, ihre Familien sind zu Besuch. Unten sitzt Ali S. am Tisch und erzählt aus dem jahrzehntelangen Kampf der kurdischen Bewegung. Er wirkt müde. „Wir brauchen mehr Unterstützung, mehr Öffentlichkeit.“ Ein Ruck geht durch seinen Körper. „Aber was bleibt uns denn übrig außer weiterzukämpfen?“ Er erhebt sich, klopft dreimal auf den Tisch: „Kämpfen, kämpfen, kämpfen.“

Am Dienstag kündigten die vier Hungerstreikenden im kurdischen Zentrum an, ihren Widerstand fortzusetzen: „bis die Isolation vollständig aufgehoben ist.“

Alexander Gorski schreibt als freier Autor über Menschenrechte und soziale Bewegungen. Er lebt in Berlin

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