Kalte und heiße Orte

Versuchsanordnung Die Ausstellung "Berlin-Moskau" vergleicht Prozesse kultureller Identitätsbildung

Eine Tagebuchnotiz von Walter Benjamin konfrontiert mit einer überraschenden Erfahrung: "Schneller als Moskau selber lernt man Berlin von Moskau aus sehen." Das war im Jahre 1926, Moskau gerade Hauptstadt eines "Sechstels der Welt" geworden, Wohnraum war knapp, Häuser wurden auf Schienen verschoben und wer sich auf den Straßen seinen Weg zu bahnen versuchte, machte am eigenen Leibe eine Massenerfahrung. Für Benjamin, der seine Beobachtungen mit Vorliebe auf den Strassen zusammentrug, erschien die Heimatstadt Berlin von hier aus vor allem eines: menschenleer, "fürstlich verödet" und "sauber gekehrt".

Acht Jahrzehnte später ist Moskau wieder ein Ort, an dem steingewordene Geschichte in Fluss geraten scheint und sich ein politischer Umbruch ins Stadtbild einschreibt. Wo Berlin als Großbaustelle Europas spürbar erkaltet, knüpft Moskau in atemloser Hektik an: Ganze Häuserkomplexe wie das Hotel Moskwa und demnächst wohl auch das Rossija am Roten Platz werden abgerissen, während an den markanten Wegkreuzungen der Stadt Bürotürme und weit draußen am Horizont Wohnhochhäuser in den Himmel wachsen. Für den Berliner führt ein Besuch in Moskau eindrücklich einen Unterschied vor Augen, den Karl Schlögel die Differenz zwischen "kalten" und "heißen" Orten nennt.

Das Projekt archXchange nimmt mit einer Ausstellung und einem Symposium im Deutschen Architekturzentrum das Baugeschehen in beiden Metropolen vergleichend in den Blick. Gezeigt werden allerdings lediglich sechs Entwürfe teils gemischter deutscher und russischer Architektenteams, die im Rahmen eines Workshops im Moskauer Zentrum für zeitgenössische Architektur entstanden sind. Das Projekt sieht vor, auf dem Gelände einer Fabrik im zentrumsnahen Südosten Moskaus ein interdisziplinäres Kunst- und Kulturzentrum zu etablieren. Für eine Ausstellung, die die Achse Berlin-Moskau im Titel trägt, sind diese Werkstattberichte eine dürftige Basis. Für eine Stadt, deren Neuordnung zumeist den Wünschen privater Investoren gehorcht, könnten diese "Versuchsanordnungen" von weitreichender Bedeutung sein. Denn noch werden in der russischen Metropole die zentrumsnahen Bestände des Industriezeitalters bedenkenlos abgerissen: Für Eigentumswohnungen mit Wasserblick etwa, für gesichtslose Bürobauten und die Allerweltsarchitektur der Autohäuser und Einkaufszentren, die sich nicht selten mit Ornamentapplikationen Bedeutungen aus der Vergangenheit borgen.

Macht eine solche Architektur die Stadt zu einem lebenswerten Ort? Berlin und Moskau - beide Städte sind "Metropolen des Rückschritts", resümiert der Stadtsoziologe Werner Sewing in seinem Katalogbeitrag. In beiden Städten simuliere eine Retro- und Wiederaufbauarchitektur Geschichte und Kontinuitäten, wo Brüche und Abgründe liegen. Die Initiatoren von archXchange plädieren für eine Stadt, die sorgsam mit ihrer vorhandenen historischen Bausubstanz umgeht. Und sie verknüpfen dieses Plädoyer mit einer alten, in beiden Hauptstädten gleichwohl aktuellen Frage: In welchem Maße finden historische Erfahrungen und Identitäten einen Niederschlag in architektonischen Prozessen? Ob Stadtschloss in Berlin oder Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau - alles soll aussehen wie einst. Aber es wird heute anders gesehen. Für die Befürworter des Wiederaufbaus der Berliner Schlosses ist dies eine kunsthistorisch relevante, gesellschaftlich aber abseitige Frage. Dabei führt sie ins Zentrum: Wie kann, wie sollte eine Architektur an prominenten Orten aussehen, die demokratisch ist, nicht weil sie dem Geschmacksurteil einer Mehrheit entgegenkommt, sondern weil sie den Austausch von Ideen und Meinungen zum Ausdruck bringt und bekräftigt?

Auf diese Frage findet das Projekt archXchange auch in Moskau keine gültigen Antworten. Aber es weicht ihr im Gegensatz zu einer neuen stadträumlichen Behaglichkeit, die allzu oft den Stadtbürger mit dem Konsumenten verwechselt und privates Sponsoring als zivilgesellschaftliches Engagement missversteht, auch nicht aus. Was nicht heißt, dass nicht auch ein Teil der Moskau-Entwürfe sich privaten Investoren anempfehlen will: Die Architekten von team 05 etwa überformen mit ihrem L´Art-Modell das verzweigte Fabrikgelände mit einem gläsernen "Wolkenbügel", der sich als sichtbares Ausrufezeichen am Horizont bemerkbar macht - und doch unterliegen muss: Die jüngsten Moskauer Bürotürme mögen ästhetisch weniger anspruchsvoll sein, aber sie ragen weitaus raumgreifender in den Himmel. Mit El Lissitzkys schwebenden Raumphantasien hat dieser "Wolkenbügel" wenig zu tun: Der alte Traum der Avantgarde, Kunst in Leben zu überführen - im L´Art-Entwurf ist er in eine private und öffentliche Mischfinanzierung eingebastelt, die neuerlich Hierarchien produziert: In den lichtdurchfluteten Obergeschossen sieht L´Art Büroraum für die Musik- und Unterhaltungsindustrie vor, etwas weiter unten findet das Goethe-Institut seinen Platz. Weniger finanzkräftigen Mietern wird mit den Fabrikgebäuden im Schatten des Turms der Katzentisch zugewiesen.

Dabei bietet das Areal mit seinen roten Backsteinbauten Gelegenheit, das Projekt nicht nur sponsorenkompatibel zu bestimmen - wie das Beispiel des Teams magma architecture zeigt. Dessen Entwurf ist von Zurückhaltung geprägt. Ein begehbarer Glaskorridor führt über verschiedene Niveau-Ebenen durch die Fabrik- und Nebengebäude. Damit ist eine denkbar einfache Lösung skizziert, die sinnfällig einen Zusammenhang als Netzwerk herstellt. Hier regiert nicht die ordnende Hand eines Architekten, sondern ein kluges Konzept, das den verschiedenen Nutzungen als Werkstatt, Labor, Museum, Büro oder Tanzschule Raum geben kann. Das ist dem Gelände durchaus angemessen und zugleich ein raumgefasster Gegenentwurf zu Putins "gelenkter Demokratie", in der der Kopf immer schon zu wissen beansprucht, was gut für die Glieder sei.

Man wünschte sich, Ausstellung und Katalog hätten weniger in die visuelle Aufhübschung investiert und die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen beiden Städten nicht dem Symposium überlassen. Denn was die "Versuchsanordnung" für Moskau vorschlägt, ist auf den verlassenen Industriearealen Berlins längst Realität. Privatinitiative nimmt sich hier den preiswerten Raum, den sie braucht, das Ortsgedächtnis bildet einen fruchtbaren Hintergrund für kreative Prozesse, die einen absterbenden Ort in die gelebte Stadt zurückführen. Manche dieser Orte verfestigen sich ihrerseits im Subventionsklima zu Institutionen, oftmals kommt nach den Kellerclubs und Atelieretagen der Investor mit den Wohnresidenzen für Besserverdienende. Und manchmal erzeugt der Phantomschmerz einer verlorenen Mitte den Wunsch nach dem feudalen Schloss. Dann zieht die Karawane weiter. Das muss nicht zwangsläufig eine schlechte Nachricht sein: Zeigt es doch, dass Berlin trotz Schloss- und Panoramaphantasien immer noch zu den heißen Orten gezählt werden darf.

ArchXchange - Berlin-Moskau. Kulturelle Identität durch Architektur. 11. März bis
21. April 2006 im Deutschen Architektur Zentrum Berlin, Katalog, Jovis, Berlin 2006,
19,80 EUR

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