Die Seele von Probstzella

Bauhaus 1927 kam die Moderne ins Thüringer Schiefergebirge. Das „Haus des Volkes“ von Alfred Arndt ist eine Reise wert
Ausgabe 10/2019

Wenn man ein Bild dafür sucht, wie das Bauhaus das Alte hinwegfegen wollte, wie es das eigene ästhetische Programm zum Maß aller Dinge machen wollte – hier, im Nirgendwo des thüringischen Schiefergebirges, findet man es. Vom Bahnhof geht der Blick in Richtung Norden, auf ein Ensemble aus kleinen Fachwerkhäuschen, eingedeckt mit dem dunklen Schiefer der Gegend. Und darüber: ein lachsrosa Kasten. Wuchtig, kantig trotz Walmdach, mit markanten senkrechten Betonstreben. In serifenlosen Großbuchstaben steht der Name an der Fassade: Haus des Volkes. Es ist ein Bau, der alles andere rundherum klein macht, der dem Ort – Probstzella im Südosten Thüringens, gut 1.000 Einwohner – seinen Stempel aufdrückt. Dass er genau so, wie er jetzt dort steht, gebaut werden konnte, verdankt sich der Chuzpe eines Bauhaus-Studenten.

„Das müsste man alles abkloppen“, soll Alfred Arndt, Student am Bauhaus, gesagt haben, als er die ursprünglichen Pläne des Unternehmers Franz Itting für das Haus des Volkes sah. Itting betrieb in Probstzella ein Elektrizitätswerk, er war einer der führenden Sozialdemokraten im Saalfelder Kreistag. In seinem Heimatort wollte er ein Kulturhaus für seine Arbeiter erschaffen, mit Kinosaal und Versammlungsräumen, mit großzügigem Park, Kneippbecken, Konzertmuschel und Hotelzimmern. Den Fortschritt nach Probstzella bringen: Das war das Ziel des „Roten Itting“.

Zwei Kinder des Industriepioniers, die Tochter Wera und der Sohn Gotthardt, studierten damals in Dessau am Bauhaus. Als der Vater sie dort besuchte, hatte er die Pläne für sein Kulturhaus dabei. Stolz breitete er sie aus – und erntete die harsche Widerrede des Studenten Arndt. Zu viel Erker, zu viel Kitsch, zu wenig Aufbruch, lautete sein Urteil. Itting nahm es sich zu Herzen. Schon wenig später beauftragte er den damals 28-Jährigen damit, den bereits bestehenden Rohbau umzuplanen. Arndt zog in die Provinz, entrümpelte den ursprünglichen Entwurf, entwarf Flachdach-Pavillons als Anbauten und einen filigranen Kiosk für den Park. Er verpasste den Zimmern, Fluren und Treppenhäusern ein knallbuntes Farbkonzept, er ließ Betten, Tische, Nachtschränkchen nach seinen Entwürfen bauen, gestaltete auch das Briefpapier, Plakate, Wein- und Speisekarten. Das Bauwerk wurde sein großer Wurf. Am Arbeiterfeiertag, am 1. Mai 1927, konnte es eingeweiht werden.

In den Sälen stand das Wasser

Die Wintersonne fällt durch die Glasfronten in den Blauen Saal des Hauses des Volkes, spiegelt sich auf den hellen Holztischen, die Kugellampen hängen in Reih und Glied, pastellblau die Wände, rot die Pfeiler. Dieter Nagel sitzt an einem der Tische und sagt: „Ich wollte dieses Haus retten, das war das Wichtigste.“ 2003 hat er das Gebäude erworben, gemeinsam mit seiner Frau und einem Geschäftspartner, der seine Anteile mittlerweile aber an das Ehepaar weiterverkauft hat. Im Rathaus von Berlin-Schöneberg haben sie das Haus des Volkes, das nach dem Ende der DDR an die Treuhand gefallen war, ersteigert, für 28.000 Euro. Verglichen mit dem, was sie später in die Sanierung stecken sollten, war es ein Klacks.

„Das Haus war eine Ruine“, erzählt Nagel, der sein Geld mit dem Großhandel von Medizinbedarf verdient. Das Wasser stand in den Sälen, das Parkett wölbte sich meterhoch, Türen waren eingetreten, Fenster kaputt. Viele im Ort hätten es am liebsten gehabt, wenn der moderne Klotz einfach verschwunden wäre, ein Abrissunternehmen war schon bestellt. Doch mit der Ersteigerung durch das Ehepaar wurden die Pläne obsolet. „Hier hätte es sonst nichts mehr gegeben“, sagt Dieter Nagel. „Das Haus ist doch die Seele von Probstzella.“

Der Unternehmer, Jahrgang 1954, ist im Ort aufgewachsen, sein Dialekt ist nicht zu überhören. Als Kindergartenkind hat er auf der Bühne des Hauses des Volkes Theater gespielt, als Jugendlicher war er zum Tanzkurs dort. Später hat er in Jena studiert, ist danach aber wieder in die alte Heimat zurückgekehrt. Um das Wahrzeichen von Probstzella wieder in Schuss zu bringen, haben er und seine Frau eine eigene Firma gegründet. Eine Schreinerei aus dem Ort hat die Möbel nach den alten Entwürfen von Alfred Arndt gefertigt. Zuschüsse für die Sanierung haben die Nagels so gut wie keine bekommen. Vor zehn Jahren haben sie das Gebäude als „Bauhaushotel“ wiedereröffnet.

Viel los ist hier nicht. Am Markt, dem zentralen Platz in Probstzella, stehen die meisten der Läden leer. Zu vermieten, zu verkaufen: Diese Zettel sieht man oft. Drei Jungs drehen mit ihren Mountainbikes auf der Straße ihre Kreise, das Smartphone spielt Trap-Rap, der Bäcker hat nur noch von fünf bis neun Uhr morgens geöffnet. Seit der Wende hat sich die Zahl der Einwohner der Gegend etwa halbiert. Entvölkerte Landstriche wie diesen gibt es heute viele, nicht nur in Thüringen, nicht nur im Osten. Arbeitslosigkeit ist dagegen kaum ein Problem. Wer in der Gemeinde keinen Job findet, kann nach Bayern ausweichen. Die Grenze zu Franken liegt keine fünf Kilometer entfernt.

Nach der Wiedereröffnung des Hauses des Volkes hat Dieter Nagel in den Sälen viel Kulturprogramm gemacht. Es gab Kinonächte, Lesungen, Schiller-Balladen, Goethe-Abende. Das Polizeimusikkorps Thüringen trat häufiger auf, „das konnten wir uns leisten“. Gerechnet aber haben sich die Veranstaltungen nicht. Dafür kamen, anders als bei Faschingssitzungen oder zum Brunch, meist viel zu wenige. Jedes Konzert, jede Lesung war ein Verlustgeschäft. Nagel hat das Programm deshalb stark ausgedünnt. „Was wir bräuchten, wäre eine gezielte Kulturförderung für die abgelegenen Regionen“, sagt er. Und auch sonst fühlt der Hotelbetreiber sich oft alleingelassen. Das Land fördere zwar viele touristische Leuchtturmprojekte, „an der Basis aber fehlt es“. Er nennt ein Beispiel: Bis vor einiger Zeit wurden in der Berufsschule im benachbarten Unterwellenborn noch Köche und Hotelfachkräfte ausgebildet, dann aber musste der Zweig schließen. Seitdem fällt es Nagel immer schwerer, Nachwuchs für seinen Betrieb zu finden.

Nagels Hoffnung ist, dass das Bauhaus-Jubiläumsjahr nun neue Gäste bringt. „Die Buchungen nehmen zu, das spürt man“, sagt er. Immer mehr spricht sich herum, dass in der thüringischen Provinz ein noch so gut wie unentdecktes Bauhaus-Ensemble existiert. Auch in der Bauhaus-Forschung war Probstzella jahrzehntelang ein blinder Fleck. Das lag daran, dass so gut wie niemand dorthin reisen konnte. Von 1954 an war Probstzella, mit seinem Grenzbahnhof an der Verbindung zwischen Berlin und München, Sperrgebiet. Besuche in der gesperrten Zone waren verboten, Grenzsoldaten patrouillierten im Ort. Bewohner, die das Regime als „unzuverlässig“ einstufte, wurden zwangsumgesiedelt. Selbst jemandem wie Michael Siebenbrodt, der in den 80er Jahren das Wissenschaftlich-Kulturelle Zentrum Bauhaus Dessau leitete und damit der wichtigste Kopf der Bauhaus-Forschung in der DDR war, wurde nur ein einziges Mal erlaubt, zum Haus des Volkes zu fahren.

„Es war ein Aha-Erlebnis, dieses Gebäude, das ich nur von den Fotografien aus der Erbauungszeit kannte, endlich zu betreten“, erinnert sich Siebenbrodt, der nach der Wende als Kustos der Bauhaus-Sammlungen in Weimar arbeitete.

Er fühlte sich als Maler

In Vergessenheit geraten war aber nicht bloß das Bauwerk, sondern auch dessen Architekt. In den Ahnenreihen der Bauhaus-Koryphäen tauchte Alfred Arndt lange nicht auf. 1921 war der Wandervogel Arndt eher zufällig an die Weimarer Akademie gekommen, er wurde von Walter Gropius gefördert, später sogar in den elitären Zirkel der Bauhaus-Meister aufgenommen. Am Dessauer Bauhaus leitete er die Ausbau-Werkstatt. Als Student hatte Arndt seine spätere Frau Gertrud kennengelernt, die zunächst bei einem Erfurter Architekten gelernt hatte, am Bauhaus aber, wie der Großteil der weiblichen Studierenden, in die Weberei abgeschoben wurde. Die Gleichberechtigung an der Kunsthochschule wurde zwar mit viel Pathos proklamiert, gegeben hat es sie jedoch nur auf dem Papier. In Probstzella arbeiteten Gertrud und Alfred Arndt gemeinsam in einem Büro, ihr Anteil an seinen Bauwerken dürfte erheblich sein. Und sie schuf radikal eigenwillige Fotografien, porträtierte sich in haarklein inszenierten Posen selbst. In Darmstadt, wohin die Arndts 1948 gezogen sind, zeigt gerade eine kleine Ausstellung die „Maskenfotos“ von Gertrud Arndt, die einen an Cindy Sherman denken lassen. Und auch die Malereien, die ihr Ehemann Alfred neben seinem Brotberuf schuf, sind dort zu sehen: surreale Tableaus, flächige Stadtansichten, experimentelle Lichtgrafiken. Alfred Arndt habe sich immer mehr als Maler denn als Architekt gefühlt, heißt es.

Von einer „Neuentdeckung“ des Künstlerpaars spricht der Thüringer Hotelbetreiber Dieter Nagel. Er glaubt fest daran, dass er mit seiner Wiederbelebung von Arndts Schlüsselbau Erfolg haben wird, dass sich das Haus des Volkes zur Pilgerstätte für Design- und Architekturliebhaber entwickelt. Tatsächlich tut sich ja auch schon einiges. Noch in diesem Jahr sollen in Probstzella die sogenannten Itting-Garagen, die Alfred Arndt gegenüber dem Hotel erbaute, saniert werden, das Geld dafür wurde bereits bewilligt. Und auch das Schmuckstück des Hotelparks, der Kiosk, könnte bald wieder strahlend da stehen. Das Architekturbüro, das auch schon die Meisterhäuser am Dessauer Bauhaus revitalisiert hat, untersuchte das Bauwerk und soll nun Pläne für eine denkmalgerechte Sanierung schmieden. Eine Ausstellung ist auch geplant. Dieter Nagel macht das Hoffnung. Seinen Traum von einer Zukunft, in der „hier mal ein bisschen mehr Leben ist“, will er nicht aufgeben.

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