Es wirkt, als wolle er in sich hineinkriechen, als versuche er, zu verschwinden. Der Fuß zuckt. Die gekrümmten, langen Finger der wuchtigen Hand betasten nervös das Gesicht. Er zittert. Sein Gesicht ist dreckverschmiert, die Haare sind struppig, Blut klebt an seiner Kleidung.
Georg Heisler ist auf der Flucht. Ausgebrochen aus dem Konzentrationslager Westhofen mit sechs Mitgefangenen. Der Kommandant des Lagers hat die Kronen von sieben Platanen kappen und mit Querbalken versehen lassen. An diesen Kreuzen sollen die Flüchtigen hängen – alle sieben, in spätestens sieben Tagen. Heisler kämpft um sein Leben und gegen die Angst. „Lieber verrecken in der Wildnis als im Lager krepieren“, fleht er. Wie der Schauspieler Max Simonischek, der schon am Wiener Burgtheater, am Berliner Gorki-Theater, bei den Salzburger Festspielen und in einer ganzen Handvoll Kinofilmen wirkte, das spielt, ist schwer beeindruckend. Man klebt quasi an ihm, während er sich auf dem Bühnenboden krümmt und verausgabt.
Als Anna Seghers 1938 mit der Arbeit an Das siebte Kreuz begann, da lebte sie selbst bereits im fünften Jahr im Pariser Exil. Die Geschichte, die sie in dem Roman erzählt, ist fiktiv, basiert jedoch auf Tatsachenberichten aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen. Weil die Schriftstellerin nicht in Deutschland recherchieren konnte, verlegte sie die Handlung in die ihr gut bekannte Gegend rund um ihre Heimatstadt Mainz. Dort gab es, in der Nähe von Worms, zu Beginn der Nazi-Herrschaft ein Konzentrationslager mit dem Namen Osthofen. In ihrem Roman beschreibt Seghers, wie dem Kommunisten Heisler auf seiner Flucht vor den Nazis immer wieder geholfen wird – nicht nur von Parteigenossen, sondern auch von eigentlich unpolitischen Bürgern. Das siebte Kreuz ist ein Appell, Widerstand zu leisten, ein Aufruf, auch dann einzuschreiten, wenn es Gefahr bedeutet.
1942 konnte Seghers das Buch veröffentlichen. In englischer Übersetzung erschien es in den Vereinigten Staaten, auf Deutsch bei einem Exilverlag in Mexiko, wohin die Autorin und ihre Familie unterdessen weitergeflüchtet waren. 1947 kehrte Seghers nach Berlin zurück, 1952 übernahm sie die Präsidentschaft des Schriftstellerverbands der DDR. Im sozialistischen Deutschland war Das siebte Kreuz bald Pflichtlektüre in der Schule, im Westen wurde das Werk der bekennenden Kommunistin lange verschmäht.
Schwerin und Schweigen
Am Frankfurter Schauspiel hat nun Anselm Weber eine Theaterfassung des Romans auf die Bühne gebracht. Die Dramaturgin Sabine Reich hat dafür aus dem 400-Seiten-Buch einen zweistündigen Theaterabend gemacht. Das Stück ist Webers erste eigene Regiearbeit in Frankfurt, seit er dort die Intendanz übernommen hat. Dass ein Großteil von Das siebte Kreuz in der Stadt am Main spielt, dürfte für diesen Einstand eine Rolle gespielt haben. Aber auch, dass das Buch noch ein unverbrauchter Bühnenstoff ist. Seghers’ Roman, das bis heute am häufigsten verkaufte Werk des Aufbau-Verlags, wurde bislang erst ein einziges Mal in Deutschland fürs Theater adaptiert: 1981 in Schwerin.
Als Kulisse wählt Weber einen leeren, dunklen Raum. Gespielt wird nicht auf der eigentlichen Bühne, sondern vor dem Vorhang. Raimund Bauer hat dafür ein unscheinbares Holzplateau entworfen, das in den Zuschauerraum hineinragt, die Darsteller wurden von Irina Bartels in schwarze Kostüme gehüllt. Spartanisch und düster wirkt die Szenerie. Nichts soll hier ablenken von den Schauspielern, von den Figuren, ihren Geschichten und Biografien.
In kurzen Szenen werden die Stationen von Heislers Flucht beschrieben. Er trifft auf alte Freunde, einen ebenfalls geflohenen Mithäftling, eine Prostituierte oder eine Schneiderin. Seine Mutter verzehrt sich vor Sorgen, seine Geliebte Leni, die der Fliehende in Frankfurt als Erste aufsucht, hat sich in der Zwischenzeit einem Nationalsozialisten an den Hals geworfen. Ihren früheren Partner verleugnet sie nun. Im Chor schildert das Ensemble die Handlung.
Und es wird gesungen. Der südafrikanische Bassbariton Thesele Kemane interpretiert Lieder aus Franz Schuberts Winterreise. Sieben dieser kurzen Stücke singt er. Sie leiten die sieben Tage, die Heislers Flucht dauert, ein. Die Texte stammen von dem romantischen Dichter Wilhelm Müller. Auch sie erzählen von einer Wanderung, vom Leid, von der Verzweiflung. Indem der Regisseur den berühmten Liederzyklus aus der Romantik dem Roman nebenan stellt, macht er seine Seghers-Bearbeitung zu einem zeitlosen Stoff – aber auch durch den Verzicht auf historisierende Requisiten. Anselm Weber schließt sich so der Deutung von Marcel Reich-Ranicki an, der 1962 in der Zeit schrieb, Das siebte Kreuz sei „heute ein Roman gegen die Diktatur schlechthin“.
Webers Seghers-Adaption ist klassisches Schauspielertheater, seinen Darstellern rollt der neue Frankfurter Intendant buchstäblich den roten Teppich aus. Es gibt viel Raum für Gesten, Ausbrüche und Körpereinsatz in seiner Inszenierung. Das kann man konventionell nennen, dem aufwühlenden Text von Anna Seghers wird diese Form aber gerecht.
Info
Das siebte Kreuz Regie: Anselm Weber Schauspiel Frankfurt, Frankfurt am Main
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