Ich saß einmal in New York im Sabarsky, dem einzigen Wiener Kaffeehaus der Stadt, und machte mir auf einem Block Notizen, da bemerkte die Kellnerin mit wissendem Blick: „Einmal im Leben muss jeder ein Buch schreiben.“ In Wien scheint diese Ansicht weit verbreitet zu sein, insbesondere zur Zeit der Buchmesse ist dort kaum jemand anzutreffen, der noch kein Buch geschrieben hat. Der Taxifahrer zum Beispiel, der mich vom Café Sperl zum Rathaus fährt, hat gerade einen Roman abgeschlossen, ist damit aber nicht zufrieden – der Ton sei ihm irgendwie noch zu wienerisch, sagt er.
Im Rathaus wird am Dienstagabend der Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln an Erika Pluhar verliehen. Pluhar ist eine in Wien berühmte Schauspielerin, die mit dem Konditor, Brillendesigner und sechsfachen Mörder Udo Proksch verheiratet war, und unentwegt Bücher veröffentlicht. In der Begründung der Jury wird ihr „Engagement für Toleranz gegenüber den anderssprachigen und kulturell anders geprägten Nachbarn“ hervorgehoben – dabei bezeichnet sich Pluhar selbst als „überhaupt nicht tolerant“: „Der Begriff Toleranz hat zu sehr damit zu tun, dass man etwas duldet, gegen das man sich stellen müsste. Dann toleriere ich auch die Faschisten.“ Möglicherweise hat sie, was Literaturpreise betrifft, auch einfach die Devise Thomas Bernhards verinnerlicht: „Nur an den Scheck denken!“
Neben dem Ausschank
Dass man Wiener Vorgänge dieser Art nie ohne Bernhard im Hinterkopf betrachten kann, oder auch Alfred Polgar, verweist auf ein grundsätzliches Dilemma: Österreich und vor allem Wien ist in der Literatur bereits derart abschließend definiert, dass man kaum noch etwas Neues darüber schreiben kann. Das völlig zutreffende Bild der um Wien kreisenden Alpenrepublik, deren Bewohner fremdenfeindlich und weltoffen sind, humorvoll und hinterfotzig, zuckersüß und bitterböse, von einer Hassliebe zu ihrer Heimat geschüttelt, ist so zum Gemeinplatz geworden, dass es Autoren in eine verzwickte Lage bringt: je genauer sie Wien treffen, desto mehr droht es, wie ein Klischee zu wirken.
Die beste Geschichte aus dem neuen Band Lässliche Todsünden von Eva Menasse zum Beispiel erzählt von einem melancholischen, adligen Snob, der sich in eine standesgemäße Ehe und dann in distanzierte Affären treiben lässt, deren letzte ihm vorhält, dass er „ein Schauspieler ganz ohne eigenen Kern“ sei. Eine durchweg überzeugende Figur, aber dass Menschen in Wien sich wie auf einer Bühne bewegen, hat man eben schon viel zu oft gelesen. In ihrer Eröffnungsrede auf der Messe am Mittwochabend beschreibt Menasse die „Frontstellung“ in Österreich dann folgendermaßen: „Auf der einen Seite die aggressiv braungebrannten Vorzeigepatrioten auf Skiern oder Lipizzanern, die wahlweise jodeln, Sachertorten backen oder Walzer tanzen, und auf der anderen Seite die professionellen Nestbeschmutzer, die durch den Katholizismus oder die unaufgearbeitete Nazi-Vergangenheit so geschädigt worden sind, dass sie nur durch anhaltendes, alarmistisches Schimpfen überhaupt Luft kriegen.“
Das Podium, auf dem Menasse spricht, liegt direkt vor dem islamgrünen Stand Saudi-Arabiens, eines Hauptsponsors der Messe, dessen Farbgestaltung es dubioserweise nahtlos aufnimmt. Darüber hängen riesige Fahnen, auf die martialisch wirkende Krummsäbel gedruckt sind. Und direkt neben den Saudis liegt der Stand der heimattreuen Kronen-Zeitung, eines Hetzblattes mit Millionenauflage, in dem die FPÖ von Hans-Christian Strache Anzeigen gegen einen EU-Beitritt Israels schaltet, während sie gleichzeitig mit islamfeindlichen Slogans auf Bauernfang geht.
Verglichen mit der Buchmesse in Frankfurt ist die Buch Wien ausgesprochen niedlich, eine einzige Halle mit knapp 230 Ausstellern. Der Buchhändlerpräsident lässt tatsächlich verlauten, man erhoffe sich Synergien mit der zeitgleich stattfindenden Seniorenmesse. Nach den Honneurs versammelt sich alles am Stand des Residenz-Verlages, der strategisch günstig neben dem Ausschank liegt, und ein älterer Herr im Tweed raunt in mein Ohr, dass er Terrorist gewesen sei, der 1977 im Auftrag der Bewegung 2. Juni maßgeblich an der Entführung des Wiener Reizwäsche-Moguls Walter Palmers mitgewirkt habe. 31 Millionen Schilling habe man damals erpressen können, ohne dem alten Gentleman ein Haar zu krümmen. Und da er gerade dabei ist, legt er mir gleich noch dar, weshalb die RAF-Terroristinnen Verena Becker und Inge Viett seiner Ansicht nach eindeutig V-Frauen des Verfassungsschutzes gewesen sein müssen.
Von der Palmers-Entführung, der österreichischen Miniaturversion des Deutschen Herbstes, ist auch in Ich kann jeder sagen, dem neuen Erzählband von Robert Menasse die Rede: Rainhard Pitsch, so heißt der Terrorist, mit dem ich gerade Wein trinke, sei damals als trotzkistischer Student in der linken Wiener Szene berüchtigt gewesen, schreibt Menasse: „Man sagte, dass er imstande war, eine trotzkistische Gruppe so oft zu spalten, bis nur noch ein Genosse übrig war, und den machte er am Ende noch schizophren. Es gab keine Stadt auf der Welt, in der es so viele, wenn auch winzige, trotzkistische Gruppen gab – das war das Werk von Rainhard Pitsch.“ Ein echter Wiener, ganz offensichtlich. Ob er ein Buch in Arbeit hat, will er nicht verraten, aber er lächelt vielsagend.
Würstel mit Senf
Anders als seine Halbschwester Eva, die seit zehn Jahren Berlinerin ist, lebt Robert Menasse immer noch in seiner Heimatstadt, zwischen Sperl und Naschmarkt arbeitet er in einem ehemaligen Bordell, „dem ersten Haus in Wien, das nicht zu einem Puff adaptiert, sondern bewusst als Bordell geplant und errichtet wurde“. Dort entkommt er dem Wiener Dilemma, indem er Romaneinstiege verfasst wie: „Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb, mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie – um es mit ihren Worten zu sagen – in den Arsch ficke“, um besagte Christa den Gefallen am Romanende mit einer Rettichwurzel erwidern zu lassen – den Kreis zu schließen. Vor dem Schreiben trinkt er Weißwein, nach getaner Arbeit läuft er gern ins Sperl, um ein Paar Würstel mit Senf und Kren zu verschlingen.
Am Abend des Messefreitages tritt Menasse im Literaturhaus auf, er ist als „BJ“ angekündigt, aber damit ist nicht „Blowjob“, sondern „Book-Jockey“ gemeint. Menasse soll offenbar nach Art eines DJs verschiedene Textstellen montieren, aber doch zum Thema Sex. So schlimm wie befürchtet, wird der Abend dann aber doch nicht, trotz des roten Schummerlichts und des billigen Dirnenparfüms, das im Raum versprüht wurde. Während er genüsslich die Penisbruch-Stelle aus Dieter Bohlens Nichts als die Wahrheit vorliest, dabei schelmisch in die Runde blickt und ein Ottakringer nach dem anderen zischt, wird er einem sogar fast sympathisch.
Ein Schwerpunkt der Buch Wien ist Literatur aus Ost- und Südosteuropa, und so gibt es am Sonntagvormittag eine Schiffsreise mit Balkan-Jazz, auf der auch Barbi Markovic liest, die mit Ausgehen gerade einen charmanten, in der Belgrader Clubszene angesiedelten Remix des Bernhard-Klassikers Gehen veröffentlicht hat. Ukrainische Dichter, die aussehen, als ob sie sonst nie ans Tageslicht kommen, rauchen in der Sonne Selbstgedrehte, und der nette 3Sat-Onkel Ernst A. Grandits blickt weise über die blaue Donau hinaus. Es ziehen Weinberge vorbei, es gibt Bier vom Fass und als das Gerücht aufkommt, ein bulgarischer Autor habe gerade die Brücke gestürmt, sodass nun Kurs auf Varna genommen werde, muss man endgültig zugeben, dass die kleine Messe in Wien doch deutlich angenehmer als die große Schwester in Frankfurt ist.
Alexander Schimmelbusch ist, obwohl 1975 in Frankfurt am Main geboren, österreichischer Schriftsteller. Mit seinen Roman Blut im Wasser gewann er den Hotlist-Preis 2009
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