„Ich wollte mich versöhnen“

Im Gespräch In seinem neuen Roman beschreibt Peter Schneider seine Mutter als eine Künstlerseele, die in einem Hausfrauendasein gefangen war
Ausgabe 20/2013
„Ich wollte mich versöhnen“

Foto: Martin Lengemann / Laif

Jahrzehntelang hatte der Schriftsteller Peter Schneider einen Schuhkarton in seinem Besitz, in dem sich Briefe seiner Mutter befanden, die starb, als er acht Jahre alt war. Die beiden waren im Zorn auseinandergegangen, am letzten Abend, bevor sie in einer Klinik verschwand, war er von einem unerlaubten Ausflug erst um Mitternacht zurückgekehrt. Der Abschied brannte sich in seine Erinnerung ein, „das von der Mühe des Schlagens verzerrte, verzweifelte Gesicht“ seiner Mutter. Jahrzehntelang nahm er den Schuhkarton bei jedem Umzug mit, ohne die Briefe zu lesen, nicht zuletzt, da sie in Sütterlin verfasst für ihn nicht leicht zu entziffern waren. Nun bilden diese Briefe den Glutkern seines neuen Buches Die Lieben meiner Mutter, in dem er seine Mutter als verhinderte Schriftstellerin kennenlernt, die von einem „Scheiß-Jahrhundert“ zur „Sklavenarbeit“ der Hausfrau gezwungen war – und dennoch lange vor anderen mit neuen Formen von Liebe und Ehe experimentierte. Der Schriftsteller und Kritiker Alexander Schimmelbusch traf Peter Schneider auf ein paar Zigaretten in Berlin-Charlottenburg.

Der Freitag: Herr Schneider, nach dem Ende einer 30-jährigen Beziehung, schreiben Sie, hatten Sie plötzlich den Wunsch, die Briefe Ihrer Mutter zu lesen. Wie hing das zusammen? Warum gerade dann?

Peter Schneider: Man kann mal so allgemein darauf antworten: Wenn immer wieder etwas schief geht, fragt man sich, welche Muster vorhanden sind, die man nicht durchschaut und die einfach wirken, ohne dass man wirklich Einfluss nehmen kann. Dieser Sache wollte ich nachgehen. Möglicherweise wollte ich mich mit meiner Mutter versöhnen, oder sie sich mit mir. Auf jeden Fall war klar, dass ich diese Briefe irgendwann einmal entziffern musste, und ich kam in diese gewissen Jahre, wo man weiß, dass nur noch ein Achtel des Lebens übrig ist, wenn überhaupt, und dann tat ich es also. Es kam eine Geschichte zum Vorschein, die mir nicht gänzlich neu war, vor Jahren hatte ich zum Beispiel einen der letzten Liebhaber meiner Mutter gesprochen, aber ich kannte nicht ihre Briefe. Und auch nicht ihren Stil.

Hat Ihr Vater, als Sie dann erwachsen waren, über Affären Ihrer Mutter gesprochen?

Das war irgendwie bekannt in der Familie, dass sie nicht nur eine, sondern wahrscheinlich mehrere Geschichten hatte. Das war in dem winzigen Kuhdorf, in dem ich als Kind die letzten Kriegsjahre verbrachte, wohl auch gar nicht zu verheimlichen, das hat dort sicher zu allen möglichen Gerüchten und Legenden geführt. Aber diese offene Ehe, das hat mich doch überrascht, das wusste ich nicht, mein Vater hat nie darüber gesprochen. Als er 1979 starb, waren seine Kinder schon alle erwachsen, er hätte das also durchaus riskieren können. Hat er aber nicht. Allerdings hat er diese Briefe behalten. Hätte er sich der Sache geschämt, dann hätte er sie ja auch wegschmeißen können.

Ihre Mutter, innerhalb der engen Grenzen natürlich, die ihr der Krieg und die Mutterrolle zogen, war eine völlig emanzipierte Frau.

Auf jeden Fall wollte sie sehr viel mehr vom Leben, als einfach nur die Mutter von vier Kindern zu sein, oder „das Dreck beseitigende Haustier“, wie sie einmal schreibt. So eine verrückte offene Dreiecksgeschichte mitten im Krieg zu finden, das ist schon etwas Seltenes. Ich habe mich gefragt, was gab es für Vorbilder, was hatte sie für Modelle im Kopf? Erika und Klaus Mann vielleicht, deren Lebensweise, aber ob das in solchen Kreisen damals durchgedrungen ist, ob man über so etwas gesprochen hat, das weiß ich nicht. Durch Zufall habe ich gerade dieses beachtliche Buch 1913 von Florian Illies gelesen, da kommt zum Beispiel derRudolf Steiner vor, der hier in Charlottenburg gelebt hat, der kam offenbar auf die Idee, seine Sekretärin mit in die gemeinsame Ehewohnung zu nehmen und zu dritt zu leben – ging allerdings nicht lange gut. Man staunt, wenn man sich damit beschäftigt, was die Generation vor uns und sogar die der Großväter alles ausprobiert hat. Man denkt immer, das tut man nur ganz alleine, aber dem ist nicht so.

Wenn Sie die Briefe gekannt hätten, als 68 alles losging, wären Sie anders vorbereitet gewesen?

Mir waren diese Briefe natürlich außerordentlich sympathisch, jetzt als Erwachsener, denn das ist ja der seltsame Vorfall, der hier zugrunde liegt, dass ein schon alter Mann plötzlich seine Mutter als junge Frau kennenlernt und sich nicht nur mit ihrer Betrachtung als Mutter, sondern auch als Liebhaberin konfrontiert. Das Risiko, das sie dabei eingeht, das ist mir schon sehr sympathisch und wäre mir auch damals sympathisch gewesen. Die Briefe hätten mich also sicher darin bestärkt, weiter in die Rebellion zu gehen.

Diese erstaunliche Ehe, dieses Getrennt-Sein, Mit-Anderen-Sein, dabei aber Freunde bleiben, Familie bleiben, auch wie diese im Grunde ja glückliche Ehe endet, mit dem Vater und dem letzten Liebhaber der Mutter zusammen am Totenbett – das wirkt aus heutiger Sicht wie eine klassische 68er-Ehe.

Der Sex spielte bei ihnen sicher nicht dieselbe Rolle wie bei uns 68ern, wo die Promiskuität fast Pflicht war, nach dem Motto: Wer zweimal mit derselben pennt und so weiter. Bei der Beziehung, die ich im Buch schildere, war Liebe die Voraussetzung für Promiskuität, und es scheint so gewesen zu sein, dass auch mein Vater diesen Freund geliebt hat, den dritten im Bunde. Es gibt viele Stellen, wo der Vater sich bei meiner Mutter nach dessen Verbleib erkundigt, ob sie etwas weiß von ihm, ob er schon in Marsch gesetzt ist oder noch im Lazarett und so weiter, da gab es ein ständiges Bekümmern um den jeweils anderen, auch wenn das der größte Nebenbuhler war. Die Beziehung meiner Eltern war sehr stark an dieses äußere Chaos gebunden, an den Krieg, an die Tatsache, dass man weiß, dass in jeder Sekunde alles zu Ende sein kann. Das galt zumindest für die letzten zwei Kriegsjahre. Da gelten plötzlich andere Regeln als in Friedenszeiten, als in der Nachkriegszeit zum Beispiel, die eine puritanische und verklemmte Zeit war, in der die geschlagenen Väter heimkehrten und dann erstmal die Autorität in der Familie wiederherstellen mussten, deren Oberhaupt im Krieg ja die Frauen gewesen waren.

Ist so eine Kriegsliebe, so eine existentiell-intensive Liebe überhaupt denkbar in langweiliger Zeit?

Kaum möglich. Was meine Mutter betrifft, ist diese Sehnsucht, dieser Traum, diese ständige Beschäftigung mit dieser doch nur selten vollzogenen Liebe, auch ein ungeheurer Schutz gewesen. Das hat ihr erlaubt, vieles andere, das nicht zu ertragen war, zu ignorieren.

Aus heutiger Sicht ist wohl auch 68 eine solche existentiell-intensive Zeit.

Das war es auch, für uns alle, die dabei waren. Und neue Beziehungsformen zu finden, raus aus der bürgerlichen Familie, einen anderen Umgang herbeizuführen, mit dem anderen Geschlecht, mit den Kindern, das waren ja Hauptmotive dieser Geschichte, nicht nur der Vietnamkrieg. Aber da war auch sehr viel theoretischer Klimbim im Spiel, den man heute gar nicht mehr ernst nehmen kann. Dass nun ausgerechnet die Schwulen, für deren Rechte ja auch gekämpft wurde damals, die Ehe für sich haben wollen, das Institut für lebenslanges Unglück, erstaunt mich. Aber natürlich geht es dabei um Rechte, und insofern verstehe ich es auch wiederum.

Aktuelle Debatten über die Geschlechterfrage wirken immer so unseriös. Ein Rieslingfritze von der FDP macht im Suff einen blöden Witz und schon kommen 20 Talkshows.

Ja, eine Farce. Gut, wenn jetzt eine Debatte aufgehängt wird am Thema Sexismus am Arbeitsplatz, dann sieht man es wieder ein, aber dieser Anlass mit dem Mieder war wirklich absolut lächerlich. Viele der heutigen Gefechte sind auch Rückzugsgefechte, viele der Streiterinnen heute können aus gutem Grund mit gewissen Radikalismen der frühen Frauenbewegung gar nichts mehr anfangen. Dass die Geschlechter völlig getrennt werden sollten, dass es schon eine Ranschmeißerei war, wenn man sich mal geschminkt oder hohe Schuhe getragen hat, groteske Auswüchse, aber das ist immer so, bei jeder ernst zu nehmenden Bewegung gibt es zu Beginn immer diesen Extremismus, das ist ein unvermeidlicher Geselle. Den muss man dann wieder loswerden, damit das Sinnvolle übrig bleibt, das ist auch bei der Studentenbewegung so gewesen.

Im Privatleben ist der Geschlechterkampf doch gelaufen, die Männer haben nichts mehr zu sagen. Jetzt konzentriert sich der Konflikt auf die Berufswelt.

Und mit Recht, ich bin sogar ein Anhänger der Quote, weil ich in Amerika gesehen habe, dass es nur so gegangen ist mit dem Fortschritt der Schwarzen. Affirmative action in der Universitätswelt, wahrscheinlich ist auch Obama ein Produkt dieser Politik. Und wenn es stimmt, es wird ja auch immer wieder in Zweifel gezogen, dass Frauen im Schnitt 25 Prozent weniger verdienen als Männer in vergleichbaren Positionen, dann ist das natürlich überhaupt nicht hinzunehmen.

Meines Erachtens werden die nächsten Generationen die Männer auch in der Berufswelt hinwegfegen. Wenn man Statistiken liest, über Schulnoten und Studienabschlüsse, kommt man zu der Einschätzung: In 20 Jahren hat sich das Ganze mit den Männern von allein erledigt.

In vielen Bereichen gibt es eine natürliche Überlegenheit der Frauen. In der Kommunikation, in der Fähigkeit, Gruppen auf ein Ziel zu orientieren. Auch im Bankenwesen, glaube ich, hat man statistisch erfasst, dass Frauen nie so irre spekuliert haben wie Männer. Das ist Frauen wohl zu blöd, einfach.

Sie haben nun zwei explizit autobiografische Bücher geschrieben, über die Kindheit, „die mythische Phase des Lebens“, und zuvor, mit Rebellion und Wahn, über 68, über die mythische Phase der Bundesrepublik. Schreiben Sie irgendwann auch einen Bericht über das Heute? Über das Alter?

Das weiß ich nicht, im Moment habe ich andere Pläne, was aber nicht heißen soll, dass ich keine Utopien mehr habe, im Gegenteil, wir brauchen dringend einen neuen Schwung, glaube ich. Natürlich, wenn jetzt irgendjemand mit einer Kritik des aktuellen Turbokapitalismus kommt und die fängt mit „sozialistisch“ an, dann höre ich nicht zu. Diese Option hat sich historisch erledigt, wird nie funktionieren, aber das heißt nicht, dass wir gezwungen sind, diesen Kapitalismus, der übrig geblieben ist, sozusagen ganz darwinistisch, einfach zu akzeptieren. Ich wünsche mir viel mehr Utopiearbeit, die natürlich nicht mehr so dogmatisch und jenseits aller Fakten operieren kann, wie das mal der Fall war in den 68er-Jahren.

Mich hat überrascht, dass dieses Thema der Ungleichheit, das ja auch während der letzten Präsidentschaftswahl in den USA so viel Presse bekam, hierzulande keine größere Mobilisierung zur Folge hatte.

Das verstehe ich auch überhaupt nicht. Wenn man mal rekapituliert, wie man als junger Mensch überhaupt hineingeraten ist in eine politische Bewegung, dann ist das Gerechtigkeitsempfinden eines der wichtigsten Motive, das hat man schon gehabt, bevor manirgendeine Ideologie im Kopf hatte. Und es wird verletzt dadurch, dass sich die Entlohnung für einen Vorstand vom 25fachen eines Arbeiters auf teilweise das 500fache gesteigert hat. Die Idioten, die solche Beträge einkassieren, glauben allen Ernstes, dass ihnen das zusteht, dabei ist es eine reine gesellschaftliche Übereinkunft, was eine Arbeit wert ist. Man kann auch völlig anders als momentan bestimmen, woran sich der Wert eines Managers bestimmt. Und die alle würden sich nicht weniger anstrengen, wenn es einen Höchstwert von beispielsweise drei Millionen pro Jahr gäbe. Wenn das für alle gilt, kann man damit auch leben. Aber wenn die Leute in den kleinen Hütten sehen, dass einige ihre Paläste immer weiter ausbauen, dann entsteht Zoff.

Das Gespräch führte Alexander Schimmelbusch

Peter Schneider wurde 1940 in Lübeck geboren, er wuchs im Süden der Republik auf und kam 1962 zum Studium der Germanistik nach Berlin. Drei Jahre später wirkte Schneider im Wahlkampf-Team von Willy Brandt mit, 1973 schaffte er den Durchbruch als Schriftsteller mit der Erzählung Lenz . Es folgten zahlreiche Bücher, auch in der Zusammenarbeit mit Peter-Jürgen Boock oder Margarethe von Trotta, aber auch mehrere Gastprofessuren in den USA. In dieser Wocher erscheint der Roman Die Lieben meiner Mutter im Verlag Kiepenheuer & Witsch

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden