Kultur gegen Kapital

Im Gespräch Der Kultursoziologe und Hipster-Forscher Mark Greif über die Begeisterung der US-amerikanischen Intellektuellen für die Occupy-Wall-Street-Bewegung

Der Freitag: Im vergangenen Jahr haben Sie, halb im Ernst, einen Steuersatz von 100 Prozent auf alle Einkünfte über 100.000 Dollar jährlich ins Spiel gebracht. Halten Sie es für denkbar, dass bei einer Wiederwahl Obamas etwas in dieser Richtung umgesetzt werden könnte? Eine Rückkehr zum Spitzensteuersatz von 70 Prozent etwa, wie er in den USA noch Anfang der Achtziger galt?

Mark Greif:

Ich denke tatsächlich, dass so etwas passieren könnte. Ein Großteil der Wähler ist immer noch von Roosevelt überzeugt, auf den sich Obama in seiner Rede im Dezember bezog, sie glauben immer noch an die Sozialpolitik des „New Deal“, sodass eine Rückkehr zu hohen Spitzensteuersätzen weniger nach radikaler Politik als nach Restauration aussehen würde.

Erstaunlich, nicht? Vor ein oder zwei Jahren hätte man das als abwegig bezeichnet.

Es gab einen Moment, in dem es nicht abwegig gewesen wäre. Im Zuge der Finanzkrise 2008 gab es eine kurze Phase, in der sogar konservative Massenmedien etwa über eine Verstaatlichung der Banken diskutierten.

Ist also ein Verdienst von Occupy Wall Street, gesagt zu haben: Augenblick mal?

Ja, wartet mal, wolltet ihr das nicht reparieren? 2008 dachte ich immer: Warum protestiert denn niemand, warum stehen keine Menschenmassen auf der Wall Street? Aber nichts passierte, auch als Obama es versäumte, das Bankensystem neu zu regulieren. Er hat wohl einfach aufgegeben damals. Stellen Sie sich vor, Sie treten als neuer Präsident an, und an Ihrem ersten Tag im Büro sehen Sie dem globalen Finanzsystem bei der Kernschmelze zu. Dann kommen Finanzleute zu Ihnen und sagen, Sie müssen jetzt Folgendes tun, anders ist das hier nicht aufzuhalten, es ist kompliziert, Sie müssen uns machen lassen – irgendwann kämen Sie an den Punkt, in dieser Lage einfach kein Risiko eingehen zu wollen.

Es gab viel Kritik an der Strategie von Occupy Wall Street, keine konkreten Forderungen zu formulieren. Nachdem Obama die Kernthemen der Bewegung jetzt mit Nachdruck auf die politische Agenda gesetzt hat: Halten Sie diese Strategie für einen Fehler?

Zu Beginn dachte ich, dass die Bewegung natürlich Forderungen braucht, aber damit lag ich völlig falsch, wie mir später klar wurde, auch wenn der Entschluss gegen Forderungen als Konsequenz anarchistischer Tendenzen innerhalb von Occupy Wall Street zu ver­stehen ist, einer Skepsis gegen jede Autorität und so weiter. Man würde annehmen, dass man eine Massenbewegung nur dann mobilisieren kann, wenn man klare Forderungen hat, auf die sich alle einigen können, aber hier war genau das Gegenteil der Fall. Es gab genug Leute, die verschiedene Probleme hatten und wütend waren und genau deshalb zusammenfinden konnten, da es eben keine konkreten Formulierungen gab, auf die sich alle einigen mussten.

Sitzt die Ablehnung des Status quo unter den Protestierenden derart tief, dass sich ihr Zorn in diesem Jahr nicht nur gegen die Republikaner, sondern auch gegen die Demokraten richten wird?

Die einzige Gefahr, die ich sehe, ist, dass die Bewegung auseinander­fallen oder verschwinden könnte.

Welche Rolle spielt die „Occupy Gazette“ im Kontext der Bewegung?

Die Idee zur

Woher kommt die Leidenschaft der US-amerikanischen Intellektuellen für Occupy Wall Street, nicht nur für die Debatte, sondern auch für den Straßenprotest? Ihr Kollege Keith Gessen und Sie sind ja sogar mit der Polizei aneinandergeraten?

Als guter Bourgeois hätte ich niemals erwartet, mit der Polizei in Konflikt zu geraten, mit der Polizei kommt man ja normalerweise noch nicht mal in Kontakt. Zu er­leben, wie sie einfach beginnt, auf Leute einzuprügeln, kann einen schon sehr wütend machen. Dieses Vorgehen ist wohl auch auf die politische Vorgabe zurückzuführen, Städte sauber zu halten, störende Elemente wie Penner aus dem Straßenbild zu entfernen, Städte für Wohlhabende und Touristen bereitzuhalten, im Zusammenspiel mit einer Fantasie über terroristische Anschläge, die dann niemals stattfanden. Und auf die Verwandlung städtischer Polizeibehörden in militärisch organisierte Anti-Terror-Einheiten, die zehn Jahre lang nichts zu tun hatten. Und plötzlich haben sie protestierende Bürger auf der Straße, auf die sie dann nur wie auf terroristisch angehauchte Unruhestifter reagieren können.

Spielt hier nicht auch ein kultureller Graben eine Rolle, zwischen Polizisten und verwöhnten, faulen, studierten Vaterlandsverrätern oder was auch immer?

Es gab in den USA nach Reagan natürlich diverse deprimierende Kulturkriege als Folge irrationaler Ängste vor Feministinnen, Schwulen, Schwarzen, Atheisten und so weiter. Zu meiner Verblüffung scheint das diesmal aber nicht der Fall zu sein, wie schon gesagt, ich halte das Problem hier für ein Administratives. Auch die konservative Presse hat sich mit dem Klischee vom ungeduschten Hippie diesmal zurückgehalten.

Um auf die Intellektuellen zurückzukommen: Gab es in New York nicht immer schon einen Konflikt zwischen Kultur und Kapital darüber, wem die Stadt gehört? Und bis vor zehn Jahren lag die Kultur vorn, die Dis­krepanz im Einkommen war moderat, und die amerikanische Literatur war erfolgreich darin gewesen, das Leben der Geschäftsmänner und Banker als deprimierend und stumpfsinnig zu definieren. Bis deren Ein­künfte in den Jahren zwischen 9/11 und 2008 exponentiell anschwollen, sodass sie sich Manhattan schließlich zu eigen machen und die Kultur weitgehend nach Brooklyn verbannen konnten. Hängt die Leidenschaft der Intellektuellen für diesen Protest auch damit zusammen, dass sie hier eine Chance sehen, das Spiel zu drehen?

Absolut. Einerseits ist Protest hier einfach Bürgerpflicht, aus Empörung über das Phänomen der Verschuldung, das mittlerweile so viele Bevölkerungsschichten betrifft, und das Versäumnis, nach 2008 die Finanzindustrie zu regulieren. Andererseits ist New York natürlich nicht mehr das New York, für das man nach New York gezogen ist. Dieses New York, wo sich alles auf eine Weise mischt, die man anderswo nicht kennt, ist an die Peripherie gedrängt worden, was ganz einfach an den Unmengen an Kapital liegt, die unentwegt ins Zentrum von Manhattan strömen. Und damit hängt wiederum natürlich auch das Phänomen des Hipsters zusammen, rein soziodemografisch. Eine solche Subkultur, von der man ja erwarten würde, dass sie irgendwie oppositionell ist, die aber darauf basiert, materielle Kenn­zeichen ihrer selbst an den neuen Wohlstand zu vermarkten, ergibt nur im Kontext mit reichen, jungen Konsumenten Sinn, die traditionell subkulturelle Gegenden in Manhattan als Unterhaltungsviertel behandeln können.

Was mich wirklich umgehauen hat vor ein paar Jahren, war eine Anzeige in einem Magazin für ein neues Apartmentgebäude in Williamsburg – ein luxuriöses Gebäude aus Stahl und Glas. Und davor stand ein fragwürdiger Typ, ganz eindeutig eine Art Grobian. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit Totenkopf, eine Fahrradkuriermütze und Militärstiefel, er hatte ein Fixie auf der Schulter und Tätowierungen und eine Brille mit dickem Gestell, und ich dachte mir: Wie eigenartig, warum bildet man in einer Anzeige für teure Eigentumswohnungen solche Leute ab, bis mir klar wurde: Das ist die Zielgruppe.

Das ist das Lebensgefühl, das dort verkauft wird.

Genau, und über dem Foto stand groß „Subkultur“, aber das „Sub“ war durchgestrichen, sodass dort einfach „Kultur“ geschrieben stand.


Mark Greif (geb. 1975) ist derzeit einer der wortmächtigsten New Yorker Intellektuellen, unter anderem fungiert er als Herausgeber der Occupy Gazette, die sich als Beginn der Geschichtsschreibung der Bewegung begreift. Eben sind im Suhrkamp Verlag zwei Bücher von ihm erschienen: Hipster (als Herausgeber) und Rappen lernen. Das Gespräch führte der Schriftsteller Alexander Schimmelbusch

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